Der Schriftsteller Walter Kempowski wird 75:Das Sammeln der verlorenen Zeit

Er hat es geschafft und allein mit Worten eine untergegangene Welt wieder aufgebaut - Besuch bei einem, der seinen Frieden gefunden hat.

Nartum, im April - Metronom heißt der Zug wahrscheinlich, weil er im Stundentakt von Hamburg losfährt, durch die aufgelassenen Hafenanlagen, durch die Felder, die eben noch wie abgenagt im norddeutschen Niesel schliefen und jetzt bersten vor Fruchtbarkeit im ersten Frühling.

Weil es doch wieder regnet, stehen wie bestellt ganz viele schwarzbunte Rinder in den Wiesen. "Kühe in Halbtrauer" hat sie der Schriftsteller Arno Schmidt genannt, in Hamburg geboren, aber dann in die Heide gezogen, ins norddeutsche Flachistan, wo der Himmel weit ist und kein Berg und kein Tal einen beim Schreiben bedrängt.

Im Bahnhof von Rotenburg an der Wümme lungert ein einsamer Jugendlicher, der Kiosk hat geschlossen, weil jetzt am Vormittag sowieso keiner vorbei kommt und ein Bifi braucht oder eine viel zu kalte Cola. "Sie wollen nach dem Schriftsteller hin!", weiß der Taxifahrer, wenn man als Ziel "Nartum" nennt, und poltert gleich los über das teure Benzin, die Gesundheitsreform und dass der Schriftsteller leider seine Seminare nicht mehr veranstalte. Das sei doch immer ein schönes Geschäft gewesen.

Der Schriftsteller in Nartum, Gemeinde Gyhum, einem sehr kleinen Bauerndorf am Nordrand der Lüneburger Heide, heißt Walter Kempowski. Er wartet schon hinter der Tür, kontrolliert nur halb ironisch, ob der Besucher auch pünktlich ist, schüttelt die Hand und führt sogleich in seinen "Turm".

Seit einem Schlaganfall führt er einen Stock an der Linken, weiß ihn aber als berufstypisches Accessoire zu führen. Auch auf dem Dorf wird der Reederssohn nicht vergessen.

Alles aufnotiert

Walter Kempowski legt, nicht ohne sich zu entschuldigen, die Beine auf einen Stuhl, entschuldigt sich auch für den Geruch, den die heute gülleführenden Bauern auf den Feldern verbreiten. Die Ehefrau bringt Tee ("Das ist sehr nett, liebe Frau") und wird gleich wieder fortgeschickt ("Du störst uns bei der Konferenz"), denn noch das harmloseste Geplauder ist Arbeit. Alles sammelt er, denn alles ist wichtig, und nichts darf verloren gehen.

Mit zwölf, so weiß die nicht ganz unglaubwürdige Legende, hat er auf die Frage nach seinem Berufswunsch präzis geantwortet: "Archiv". Der Vater sollte Daten aus dem Büro der Schiffsmakelei mitbringen, irgendwas, und der Sohn hat alles aufnotiert: die Filme, die er im Kino sah, die Bücher, die er las, Devisenkurse, Rechnungsposten, alles.

Der heutige Hanser-Verleger Michael Krüger, der als junger Lektor 1970 den Roman "Tadellöser & Wolff" betreute, erlebte den Autor beim Verzetteln des Materials: "Die Arbeit war komisch und sehr produktiv, weil man schon nach sehr kurzer Zeit vollkommen in den Netzen von Kempowski zappelte."

Auch da vergeudete er nichts und sammelte weiter, fürs Tagebuch, für die nächsten, längst geplanten Romane. Wenn Krüger in einem von Kempowskis Zettelkästen nach einem Ausdruck suchte, fand er seine eigenen Sonderbarkeiten schon in den Kästen abgelegt vor. Das Archiv Kempowski kann zum Fürchten sein.

Drei Tage nach der Maueröffnung 1989, als die noch unbekannten Mitbürger aus Mecklenburg und Brandenburg herüberströmten, trafen wir ihn zufällig in der Lübecker Marienkirche. Auch Kempowski war hergekommen, um die fremden Menschen aus der DDR zu erleben, und er war dann wie wir vor dem Massenandrang in die ruhigere Kirche geflohen.

Im Zug setzte er sich hinter die endlich befreiten DDR-Bürger, um sie zu belauschen und gleich zu notieren, worüber sie sprachen. Kempowski zeigte sein Notizbuch, eine große Kladde, bei der er den rechten unteren Rand abgeschnitten hatte, damit er sie auch im Dunkeln richtig herum aufschlagen und gleich weiterschreiben konnte.

In Lübeck erzählte er von einem wahnsinnigen Vorhaben, dem "Echolot": ein kollektives Tagebuch, unkommentiert nebeneinander gestellt Stimmen von hoch und nieder, dazwischen Thomas Mann oder Joseph Goebbels mit ihren Einträgen beispielsweise zu den letzten Kriegswochen 1945. Die Welt im Buch, und zwar ganz.

Denn seine ist ihm zerfallen. Kempowskis Vater starb in den letzten Kriegstagen auf der Frischen Nehrung, der Sohn schwänzte schon lang die Schule, verwahrloste zwischen Bombenangriffen aus dem Westen und dem sowjetischen Vormarsch.

Alles aus

1948, als er seinen Umzug in den Westen vorbereitete, auf eine Lehrstelle beim Rowohlt-Verlag in Hamburg hoffte, in Wiesbaden mit den Amerikanern Kontakt hatte, wurde Kempowski bei einem letzten Besuch in Rostock wegen Spionage verhaftet. Die Todesstrafe war gerade ausgesetzt, so kam er mit 25 Jahren Gefängnis davon, zu verbüßen im berüchtigten "Gelben Elend" in Bautzen. Alles aus.

Zuerst nur geschluchzt und geheult. Tag und Nacht brennt das Licht; Zahn-schmerzen. "Kein Mensch hat mir geholfen." Ein dilettantischer Versuch, sich mit einem Taschentuch aufzuhängen. Die ersten Monate war er mit seinem Bruder Robert zusammen, hat sich besprochen, wie schön es zuhaus war.

Die Familienfeste haben sie nachgeschmeckt, Kindergeburtstag mit Topfkuchen und Lebenslicht, die Redensarten der Mutter, die Gerüche, Farben, Bilder. "Es war leicht farbfilmartig, und im Stillen hat man die Schmerzen abgetastet."

Sonderbar erschien ihm diese Familie, also exemplarisch. Die eigene Familie wird der Ausgangspunkt für den Kempowski'schen Totalroman, der in mittlerweile zehn Romanen, dazu Befragungsbüchern, Tagebüchern und vor allem der polyphonen Riesen-Collage "Echolot" zum großen deutschen Geschichtsbuch des vergangenen Jahrhunderts geworden ist.

Er begann damit, als alles verloren war, im Gefängnis: "Ich hatte ein Essgeschirr aus dunkelbraunem Emaille. Von der Wand habe ich ein bisschen Kalk abgeschabt, mit Seife gemischt, befeuchtet und damit den Boden der Schüssel bestrichen." Mit einem Holzspan hat er Farbreihen hineingeritzt, himmelblau, lichtblau, dunkelblau, oder alle Abstufungen von heiß bis kalt. Bloß nichts vergessen. Wenn die Suppe kam, war alles wieder weg.

Vierhundert Männer hockten in seinem Trakt, vierhundert Stimmen, die unaufhörlich redeten, sich erzählten, schimpften, klagten, selten schwiegen. Kempowski wurde Taktmeister in Bautzen, führte Chorwerke auf und dirigierte, für später, den großen Gesang der Häftlinge. Und sonst? Sonst, acht Jahre lang, die "ständige Angst vor Draußen".

1956 kam er dann vorzeitig frei und in den Westen. 27 war er, ohne Ausbildung, "eine Schnecke ohne Gehäuse". Zur Mutter fuhr er nach Hamburg, dabei hatte er nur den Gedanken: "Du hast sie in den Knast gebracht, jetzt muss sie sich alle Zähne ziehen lassen - deine Schuld, deine Schuld."

Der Richter verweigerte ihm die Anerkennung als politischer Häftling ("Sie sind für mich ein ganz gewöhnlicher Krimineller"). Und Kempowski, der die Geschichte in seinem Roman "Herzlich Willkommen" berichtet und sie jetzt wieder erzählt, staunt von Neuem, höhnt: "Ja, es ist schon ein Wunder, das ganze Leben."

Sein Leiden, sein Kapital

Der einstige Schulschwänzer ging nach Göttingen, machte das Abitur nach, studierte Pädagogik und dachte sich das Leben als Dorfschullehrer doch noch schön. Vor allem begann er bereits am Tag nach der Entlassung aus der DDR mit dem Schreiben und hat seitdem nicht mehr aufgehört, "mein eigenes Leben auszumünzen".

Er kaufte sich ein Tonbandgerät und ließ sich die Erinnerungen seiner Angehörigen aufsprechen. Die zersprengte Familie musste wieder zusammen.

In Göttingen heiratete er die friesische Pfarrerstochter Hildegard Janssen. Einen Sohn und eine Tochter bekamen sie und zogen 1965 hierher nach Nartum, wo Kempowski in der einklassigen Dorfschule unterrichtete.

Nach dem Mittagsschlaf begann das Leben als Archiv. Zuerst musste die Haftzeit behandelt werden. Auf einem Foto zeigt der ungedruckte Autor einen brustkastenhohen Stapel Papier. Das ist das Manuskript für sein erstes Buch, sein Leiden, sein Material, sein Kapital. Sieben Jahre vergingen zwischen dem ersten Verlagskontakt und der Veröffentlichung von "Im Block" (1969). Am Ende verkauften sich davon achthundert Stück.

Kempowski schrieb weiter an seinem großen Familienepos. Der große Erfolg kam, als Eberhard Fechner "Tadellöser & Wolff" verfilmte und die Sprüche, die Robert und Walter Kempowski im Gefängnis memoriert hatten, mit Edda Seipel und Karl Lieffen neuerlich sprichwörtlich wurden.

Plötzlich war der ehemalige Knastbruder und belächelte Dorfschullehrer ein Volksschriftsteller. Bei den politischen Kollegen war er damit abgemeldet.

Während die Politik nach Entspannung mit dem Osten strebte, erinnerte dieser Kempowski daran, dass die DDR ihre echten oder vermeintlichen Gegner kurzerhand einsperrte. Im Tagebuch von 1989, später unter dem Titel "Alkor" veröffentlicht, triumphiert er ordentlich: "Die Linken hier sind baff, ihre schöne DDR! Ihre bessere Welt! Ihr Arbeiterparadies!"

Die Linken, die berühmten "Achtundsechziger", die ihn angeblich nicht gelten lassen wollten, fuchsen ihn immer noch. "Es gibt so'n paar Sachen, auf die ich lange, lange, lange gewartet habe", aber jetzt ist beinah alles gut. "Sie müssen mich als" - und hier spricht der strenge Herr Lehrer- "als Herr Professor Dr. Rittmeister Walter Kempowski anreden."

Heimkehr des verstoßenen Sohnes

Denn in seiner Heimatstadt haben sie ihn im vorigen Herbst zum Honorarprofessor für Neuere Literatur- und Kulturgeschichte ernannt. Es ist, ohne Angst vor dem Pathos, die Heimkehr des verstoßenen Sohnes geworden.

Im vollen Ornat erschien die ganze Fakultät der Rostocker Universität, der Rektor vorneweg, der Pedell öffnete die Flügeltüren, und drin sprangen drei-, vier-, vielleicht sogar fünfhundert Leute auf und standen vor ihm. "Ich war angekommen in meiner Heimatstadt!" Der Moment hat ihn tief erschüttert.

Sie werden ihn zum Geburtstag an diesem Donnerstag überall ehren, in Pennsylvania haben sie ihm einen weiteren Ehrendoktor aufgesetzt, ein Symposium in Wisconsin hat schon stattgefunden, ein weiteres in Bielefeld folgt, aber das in Rostock, "das war der absolute Höhepunkt meines Lebens".

Wenn Walter Kempowski sein Lebenswerk besieht, kann er sich den Traum aller Schreiber bestätigen: Allein mit seinen Worten hat er eine untergegangene Welt wieder aufgebaut. Mehr noch: "Ich habe die Familie zerstört, ich habe die Familie aber auch wieder zusammengeführt."

Und springt sofort von seiner ganz besonderen Familie ins Allgemeine. Die ganze Arbeit, von der Familiengeschichte bis zum "Echolot", hat er für Deutschland geleistet. "Ich tu das nicht um der Geltung wegen, ich hab doch eine Mission!" Vorsichtig formuliert er weiter, aber dann beruft er sich auf sein Alter, das ihm die Freiheit zu diesem Satz gebe: "Es geht im Grund auch um dieses arme Volk, das mit einem Schuldklotz belastet durchs Leben keuchen muss, und was sie auch tun, es ist verkehrt, ein bisschen, dass ich mich an ihre Seite stelle und sage: 'So verkehrt seid ihr nicht'." Die Hand auflegen, das reicht doch, meint er als guter Reformpädagoge.

In seinem Gefängnisbericht hat Kempowski sich gleich auf den ersten Seiten als Denunziant bekannt, weil er unter Druck etwas über einen Kameraden erzählte. "Ich habe immer gesagt, ich bin das größte Schwein, ich habe sogar meine Mutter verraten. Und plötzlich sind sie vor mir aufgestanden in Rostock, vor mir, dem Schwein."

Walter Kempowski führt durch sein Haus, er nennt es abwechselnd ein Klos-ter und ein Gefängnis, das er seit 1974 "um mein Werk herum" gebaut hat. "Ich habe mich freiwillig dorthin begeben, wo die anderen mich haben wollten." Nach der Pensionierung 1980 hat er hier Schreib- und Literaturseminare veranstaltet und, natürlich, weiter Material gesammelt für seine Bücher.

Dass Bautzen sein Leben weiter beherrscht, bestreitet er nicht. "Ich war acht Jahre im Knast, ich komme immer wieder drauf zurück." Als er schon 15 Jahre Lehrer war, hat er nachts seine Frau geweckt und gesagt: "Jetzt ist es verjährt" und war endlich den gewöhnlichen Kriminellen los.

"Ich bin unschuldig"

Im Tagebuch zitiert Kempowski einen Tagtraum, aber es ist eher ein Wunsch-traum: "Ich bin unschuldig." Im letzten Sommer hat er aus heiterem Himmel Gedichte zu schreiben begonnen. Nie zuvor hat er Gedichte geschrieben, "ich lehne das ab!" Die Gedichte handeln nicht bloß vom Gefängnis, sondern von der Einzelhaft vor 56 Jahren. "Auf einmal pocht das Unbewusste leise an die Tür und sagte: 'Lieber Freund, du denkst es zwar, aber es ist noch lange nicht vorbei'."

Ganz geniert oder vielleicht bloß kokett ist er und sagt, es sei ihm fast peinlich, darüber zu reden, wie das plötzlich über ihn gekommen ist, wie er auf Rechnungen, Faxbelegen, Notizzetteln etwas hinschmierte, als würde er Stimmen hören. "Ist das nicht interessant?", fragt er den Besuch, als ginge es um einen Dritten oder einen bereits historischen Walter Kempowski.

Die Gedichte sind alle gesetzt und auch schon auf Band gelesen, aber veröffentlicht werden dürfen sie erst nach seinem Tod. Jetzt ist er selber einer der schätzungsweise siebentausend Lebensläufe, die er in seinem Archiv zusammengetragen hat.

Geheimnisse in einem Koffer

Das Archiv gibt dem weitläufigen Schriftsteller-Anwesen etwas streng Be-hördliches. Hängeregale, Aktenhunde, Metallschränke bergen Zehntausende von Fotos, Kalendern, Notizbüchern und Briefen. Kempowski zieht einen billigen Koffer aus dem unteren Regal, den ihm jemand zugeschickt hat, reißt an den rostigen Verschlüssen, und auch der ist wieder voll gestopft mit Hunderten von Briefen.

Wie eine Lottofee zieht Kempowski einen davon heraus, liest in blassblauer Handschrift, wie jemand haarklein das Programm des Reichsrundfunks von 1943 kommentiert. In einer Mappe liegt ein kleiner, kaum gebrauchter Taschenkalender.

In ein- oder zweizeiligen Einträgen klagt ein Soldat in Russland über das Zusammensein mit den Kameraden, den allgegenwärtigen Schweißgeruch. Die Bleistift-Notate hören Ende Februar 1942 auf. Und dann? Ist er gefallen? Kempowski weiß es nicht. "Früher hätte ich auf der Suche nach einer Antwort einen ganzen Sonntagnachmittag lang geschmökert." Doch das Archiv hat er geschlossen, sein Lebenswerk, aber auch da ist er kokett, mehr oder weniger beendet.

Wieder zurück im "Turm" stößt Kempowski mit dem Stock auf eine schwarze Scheibe im Boden. Drunter liegt Erde aus Rostock, die er bei einem Besuch 1974 in der DDR heimlich mitgenommen hat: "Dieser schwarze Punkt, das ist doch das Zentrum, und zwar nicht meins, sondern das Zentrum Europas." Und dann sagt er etwas Seltsames: "Wenn ich jetzt sterbe, möchte ich in Rostock beerdigt werden. Und wissen Sie, was das Merkwürdige ist?", ergänzt er, im Vollgenuss der dramatischen Steigerung: "Ich möchte dort ohne meine Frau beerdigt werden."

Nein, mit seiner Frau hat er noch nicht darüber gesprochen. "Das hat nichts damit zu tun, dass ich sie gering achten würde; wir sind schließlich fünfzig Jahre verheiratet. Aber wenn ich irgendwann von diesem Körper Abschied nehme, muss ich zu ihr sagen: 'Du bist von hier, und ich bin aus Rostock'. Natürlich ist es ganz unmöglich, was ich da sage, aber so ist es."

Der Stock erweist sich weiterhin als hilfreich, der Schriftsteller klopft nachdrücklich auf den Boden. "Gestern wurde mir klar, dass man in die Einsamkeit zurück geht, aus der man gekommen ist."

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