Dokumentarfilm "Der Schneeleopard" im Kino:Wo bist du, Schneeleopard?

Dokumentarfilm "Der Schneeleopard" im Kino: Auf einmal steht er da und schaut - der Schneeleopard, rar und scheu und nicht zu fassen.

Auf einmal steht er da und schaut - der Schneeleopard, rar und scheu und nicht zu fassen.

(Foto: Vincent Munier/MFA)

Wer lang genug im Eis des tibetischen Hochlands ausharrt, um eine seltene Tierart zu studieren, kommt verändert zurück - selbst als Kinozuschauer.

Von Anke Sterneborg

Sie dürfen nicht zu sehen sein, nicht zu hören, nicht zu riechen für den scheuen Bewohner der Berge. Ihre Tarnanzüge sind an die Formen und Farben der Landschaft angepasst, sie verschwinden darin in perfekter Mimikry. Stundenlang harren sie aus, reglos und schweigsam, bei minus 30 Grad Kälte und einer großen Frage: Werden sie das Objekt ihrer Begierde überhaupt je zu Gesicht bekommen?

Vincent Munier, der berühmte Naturfotograf, hat seine Kameras mitgebracht und ein paar starke Teleobjektive. Sylvain Tesson, der Reiseschriftsteller, sein Notizbuch. So sind sie ins tibetanische Hochland aufgebrochen, zu einer Expedition in eine vom Menschen noch weitgehend unberührte Landschaft, kalt und karg, in rund 5000 Metern Höhe. Wie ein Traumurlaub mag das nicht klingen, vor allem brauchen die beiden Männer Geduld. Die aber wird am Ende mit einer spirituellen Erfahrung belohnt, und das nicht nur für die beiden Abenteurer im Film, sondern auch für die Zuschauer im Kino.

"Der Schneeleopard" ist sehr viel mehr als einfach nur ein Tierfilm mit atemraubenden Bildern. Ihn zu sehen verändert auch den Betrachter. "Diese Stunden des Wachens bildeten das genaue Gegenteil zu meinem Rhythmus des Reisens", sagt Tesson: "Ich flatterte von einer Faszination zur nächsten, führte ein übereiltes Leben. Ich hechtete von Reise zu Reise, vom Flugzeug in den Zug, von einem Vortrag zum nächsten, um zu verkünden, dass die Welt gut daran täte, endlich zur Ruhe zu kommen."

Munier fotografiert, Tesson schreibt, und dazu gesellt sich als unsichtbare Begleiterin noch Marie Amiguet als Co-Autorin des Dokumentarfilms. Den Soundtrack liefern die Großstadt-Musiker Warren Ellis und Nick Cave, die schon Spielfilmen wie dem finsteren Rachewestern "The Proposition" oder dem Indianerreservats-Krimi "Wind River" einen melancholischen Klang gegeben haben. Ohne die Filme zu kennen, hatte Munier diese Kompositionen schon zum Soundtrack seiner Expeditionen in die Einsamkeit gemacht. Als er die beiden bat, sie für sein Kinodokumentarfilmdebüt verwenden zu dürfen, haben sie neue Stücke komponiert, die Texte von Tesson vertont und mit Naturgeräuschen und Tierlauten angereichert: "This world has ears and rocks have eyes", raunt Nick Cave im Titelsong: "Nature loves to hide, the world is a bush full of fiery eyes, (...) We are not alone."

Der Leopard lässt sich nicht gern sehen - aber er schaut zurück

Der Film ist eine Übung in Geduld und zugleich eine Schule des Sehens. Er sensibilisiert für das, was man alles wahrnehmen kann, wenn man geduldig wartet und wachsam schaut. "Munier war mein Lehrer, er brachte mir das Lesen bei - zum zweiten Mal in meinem Leben," schreibt Tesson in seinem Reisebericht, der als Buch schon erschienen ist und zum Bestseller wurde, auch weil er eine dringend gebotene, andere Form der Koexistenz von Mensch und Tier lehrt, jenseits von Ausbeutung und Eroberung. "Munier beeindruckte mich mit der Art und Weise, wie er die Landschaft betrachtete. Er las sie, wie man ein Gedicht liest." Nicht als menschlicher Ästhet, sondern mit den Augen eines Tieres.

Dabei wird Munier zum findigen Detektiv, der ein Psychogramm des Gegenübers erstellt und seine zukünftigen Handlungen voraussagen kann, der Indizien sammelt für den möglichen Aufenthalt. Er analysiert Jagdgründe und Brutplätze von Falken, Füchsen, Antilopen, Bären, Yaks, vor allem aber vom Titelhelden, dem bereits ausgestorben geglaubten Schneeleopard. Lange vor seinem Begleiter entdeckt er in den fernen Bergkuppen Tiere. Aber manchmal geht es ihm auch wie dem Fotografen in Michelangelo Antonionis berühmtem Film "Blow- up", der erst hinterher in seinen Bildern verborgene Wahrheiten entdeckt. Während Munier einen Falken fotografierte, nahm ihn unbemerkt aus der Ferne, versteckt hinter einem Berggipfel, der Schneeleopard in den Blick. "I was observed and unaware", ich wurde beobachtet und merkte es nicht, singt Nick Cave.

Man habe ihm oft vorgeworfen, dass er nur die schönen und nie die hässlichen Dinge fotografiere, erzählt Munier, aber er arbeite eben nicht wie ein Fotojournalist, der Missstände zeige, ihm gehe es darum, die Schönheit zu feiern. Diesen Blick übernimmt dieser außergewöhnliche Film, wenn er über raue Bergkuppen und weite Täler streicht, wenn er Schneeverwehungen, Nebelschwaden und Wolkenformationen folgt, wenn er die vielen Schattierungen von braun, beige und grün bestaunt und den Bewegungen von Antilopen, Wölfen oder Yaks folgt und ihren Geräuschen lauscht. So erzählt er davon, wie Menschen sich einfügen können in die Harmonie der Natur.

La panthère des neiges, Frankreich 2021. Buch und Regie: Marie Amiguet, Vincent Munier. Mit Vincent Munier und Sylvain Tesson. Verleih: MFA, 92 Minuten. Kinostart: 10. 3. 2022.

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