Süddeutsche Zeitung

"Der schlimmste Mensch der Welt" im Kino:Leben lernen

Die Tragikomödie "Der schlimmste Mensch der Welt" von Joachim Trier ist ein herrlicher Film über die Liebe und das Glück.

Von Philipp Bovermann

"Zwischen uns wird nichts passieren", sagt sie. Der Mann, den sie eben auf einer Party kennengelernt hat, in irgendeiner fremden Wohnung, sagt: "Natürlich nicht." Aber da wimmert auf der Tonspur bereits ein leiser, sehnsüchtiger Ton, und er wird lauter. Eine der interessantesten Szenen eines Fremdgehens, die man je in einem Film gesehen hat, nimmt ihren Lauf.

Die beiden stehen sich gegenüber in einem Türrahmen, wie in einem Bilderrahmen. Er vertrage keine Untreue, sagt er. Sie auch nicht, sagt sie. "Aber wo ist die Grenze?" Um es auszuprobieren, nimmt sie ihm die Bierflasche aus der Hand, trinkt einen Schluck, gibt sie ihm zurück. Das war sie offensichtlich noch nicht, die Grenze. Sie beißt ihm in den Arm, er beißt zurück, die beiden müssen lachen. Sie gehen voreinander pinkeln. Sie riechen sich gegenseitig unter den Achseln. "So einen Gestank vergisst man nie wieder." Am Ende der Nacht trennen sie sich, ohne sich ihre Nachnamen zu verraten, denn sonst würden sie sich ja doch nur auf Facebook finden und letztlich im Bett landen. Bei einem gemeinsamen Spaziergang zum Abschied verdrängt die Morgensonne langsam die Nacht.

Keine acht Minuten sind vergangen, da hat sie bereits zweimal das Studium und den Mann gewechselt

"Der schlimmste Mensch der Welt" ist der dritte und letzte Teil der Oslo-Trilogie von Joachim Trier. Der norwegische Regisseur gilt, völlig zu Recht, als eines der großen europäischen Talente seines Fachs, als ein Beschwörer dunkler, existenzieller Gefühle und Ahnungen. Die nur lose thematisch verbundene Oslo-Reihe endet nun aber, wer hätte das gedacht, als ein leichtherziges romantisches Drama, stellenweise fast schon als eine romantische Komödie. Rückblickend wirken die ersten beiden, bereits hervorragenden Oslo-Filme wie ein Reifeprozess für einen großen Film über die Liebe, das Leben, nichts Geringeres - für ein Meisterwerk, das darf man hier ruhig mal schreiben.

"Auf Anfang", der erste Teil, erschien 2006, Trier war damals 32 Jahre alt war. Im Zentrum der Handlung stand ein junger Schriftsteller, der glücklich verliebt ist, bis eine Psychose ihn in die Psychiatrie bringt, auch wegen der obsessiven Romanze. Als er entlassen wird, fliegt er entgegen dem ärztlichen Rat mit der Geliebten noch mal nach Paris, wo sie sich verliebt haben. Er bucht dasselbe Zimmer im selben Hotel, sie gehen in derselben Reihenfolge in dieselben Cafés, sie muss ihm, zunehmend bestürzt und widerwillig, Modell stehen, um dieselben Erinnerungsfotos noch einmal aufzunehmen. Bei ihrem ersten Besuch zählte er an einem Aussichtspunkt im Park zum Spaß von zehn herunter, bei null werde sie sich in ihn verlieben, sagte er. Damals fand sie das süß. Nun stehen sie dort wieder, er zählt nochmal runter. Ein herzzerreißender Moment.

Der zweite Teil, "Oslo, 31. August", erzählte von einem jungen Drogensüchtigen aus privilegierten Verhältnissen, der aus der Entzugskur entlassen wird, aber nichts hat im Leben und auch nichts will, womit er die wiedergewonnene Restlebenszeit ausfüllen könnte. Also wird er rückfällig.

Es ist das Versprechen der Kunst schlechthin: Sich fremd werden. Fremdgehen

Bislang waren die Verlorenen in Triers Trilogie-Kosmos allesamt Männer, nun aber tritt dort eine junge Frau mit unklarem Lebensplan auf, Julie, die der Film in zwölf Kapiteln durch ihre Zwanzigerjahre begleitet. Renate Reinsve spielt sie mit einer lebensbejahenden Frische, die sich wie ein Traumschleier auf das zuvor so düstere Oslo legt, es größer und komplexer macht. 2021 gewann Reinsve dafür den Preis als beste Darstellerin beim Filmfestival von Cannes. Wie ihre männlichen Vorgänger ist auch Julie eine Suchende, aber ihr Modus ist weniger der depressive Konjunktiv des Ex-Junkies als vielmehr ein gewundener Indikativsatz mit vielen Kommas und Einschüben, ohne Punkt, atemlos, still entgleisend. Im Film sind keine acht Minuten vergangen, da hat sie bereits zweimal das Studium und den Mann gewechselt. Sie zieht beim mehr als zehn Jahre älteren Aksel ein, einem Zeichner von Underground Comics.

Zur Ruhe kommen wird sie dort nicht. Aksels Freunde haben schicke, moderne Häuser und Kinder im Garten, sie streift dort umher, mit einem Glas Weißwein in der Hand. Einer ihrer Streifzüge bringt Julie zu einer Party, auf der sie den Mann kennenlernt, mit dem so überaus elegant und unterhaltsam nichts passiert. Später wird sie den Lichtschalter in der Küche betätigen, als Aksel morgens gerade Kaffee in eine Tasse gießt, die Zeit wird einfrieren, die aus der Kanne rinnende Flüssigkeit in der Luft stehen bleiben, auch vor der Wohnung alle Autos und Menschen, sie wird zu diesem neuen Mann rennen, der, wie sie inzwischen erfahren hat, in einem Café arbeitet. Davon handelt dieser Film, es ist das Versprechen der Kunst schlechthin: aus dem eigenen Leben heraustreten zu können. Sich fremd werden. Fremdgehen.

Atemlos und beglückt rennt Julie durch die Straßen, ziemlich genau in der Mitte des Films. Am Ende, so ahnt man, werden wieder keine Luftballons über einer Ziellinie aufsteigen, aber diesen Moment immerhin wird die Sonne nicht verjagen können, so wie sie am Morgen nach der Party den Zauber der Nacht verjagte, als wäre er nur ein Traum gewesen. Das Herz zieht sich zusammen, Julies Lunge arbeitet. Echtes, tiefes Glück ist schmerzhaft, weil es an verwundbare Regionen rührt. Künstlerisch dargestellt ist es nur auf einer Grundierung von Tragik wirksam. Die ersten beiden Filme der Oslo-Trilogie bereiteten diese Grundierung meisterhaft. In "Der schlimmste Mensch der Welt" tritt sie in den Hintergrund, ohne selbst Thema zu werden, zumindest nicht dauernd. Womöglich nennt man das Erwachsenwerden.

Verdens verste menneske, Norwegen/Schweden/Dänemark 2012 - Regie: Joachim Trier. Buch: Eskil Vogt, Joachim Trier. Kamera: Kapser Tuxen. Mit: Renate Reinsve, Anders Danielsen. Koch Films, 121 Minuten. Kinostart: 2. Juni 2022.

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