·:Der Schlaf - ein Menschheits-Rätsel

Von der Philosophie zur Naturwissenschaft.

Derartige Bedenken sind ganz ähnlich wie die Frage, ob wir eigentlich jetzt schlafen oder wachen. Solche Bedenken laufen alle auf dasselbe hinaus, nämlich auf die Forderung, dass für jedes ein begrifflicher Grund angegeben werden müsse. Man sucht nach einem Ausgangspunkt und will diesen auf dem Wege des Beweises gewinnen.

Aus der altgriechischen Zeit sind Äußerungen von Philosophen und Ärzten überliefert, in denen Erklärungen für den Ursprung des Schlafs angeführt werden.

Empedokles von Agrigent, der Schöpfer der Vier-Elemente-Lehre, nach der es nur ein Mischen und Entmischen der Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde gibt, betrachtete den Schlaf als Folge einer mäßigen Abkühlung der im Blut befindlichen Wärme, beziehungsweise als die Absonderung des Elements "Feuer". Hippokrates, der "Vater der Heilkunst", schloss aus der Abkühlung der Gliedmaßen, dass der Schlaf auf der Flucht von Blut und Wärme ins Innere des Körpers beruhe.

Für Aristoteles lag die unmittelbare Schlafursache in der aufgenommenen Nahrung, von der er annahm, sie gebe eine Ausdünstung in die Adern ab. Diese Dünste würden dann von der Lebenswärme in den Kopf getrieben, sammelten sich dort an und verursachten Schläfrigkeit. Alsdann kühlen sie sich im Gehirn ab, sinken wieder in tiefere Körperteile zurück und entziehen dabei dem Herzen Wärme. Dies führe schließlich zum Schlaf, der so lange andauere, bis die Nahrung verdaut sei und das für die oberen Körperregionen bestimmte reine Blut sich vom unreinen geschieden habe.

Der Aristoteles-Interpret Alexander von Aphrodisias (2./3. Jahrhundert n. Chr.) knüpft an die Wärmetheorie an und argumentiert, durch die Ermüdung werde der Körper ausgetrocknet und verliere dadurch an Wärme, was schließlich zum Schlaf führe.

Im Mittelalter (12. Jahrhundert) betonte Hildegard von Bingen, die Verfasserin medizinischer, naturkundlicher und mystischer Schriften, die Parallelen zwischen Schlaf und Nahrung und brachte beide in Zusammenhang mit dem Sündenfall.

Der Mensch bestehe aus zwei Teilen: aus Wachsein und Schlaf. So werde auch der menschliche Körper auf doppelte Weise ernährt, nämlich durch Speise und Ausruhen. - Vor dem Sündenfall sei Adams Schlaf ein "Schlaf zur Versenkung" (="sopor"), also ein "tiefer", kontemplativer Schlaf, und die Nahrung nur eine Nahrung zum Anschauen gewesen - alles nur, um den Menschen geistig-seelisch zu erfreuen und zu erbauen. Der Sündenfall habe seinen Körper schwach und gebrechlich gemacht wie den eines Toten im Vergleich zu einem Lebenden. Jetzt habe der Mensch Stärkung durch Nahrung und Schlaf nötig. Der Schlaf sei zu einem normalen Zustand bei allen Menschen geworden. Wie die Nahrung das Fleisch wachsen lasse, so erhole sich und wachse das Mark ("medulla"), das durch Wachen verdünnt und geschwächt werde, im Schlaf wieder heran."

Im 16. Jahrhundert wollte der Arzt Paracelsus die Medizin wieder näher an die Natur heranführen. Er meinte, der natürliche Schlaf dauere sechs Stunden, beseitige die durch Arbeit aufgetretene Ermüdung und erquicke den Menschen. Er empfahl, man sollte weder zu viel noch zu wenig schlafen, sondern sich nach der Sonne richten, mit ihr aufstehen und bei Sonnenuntergang schlafen gehen.

Im 17. und 18. Jahrhundert wurde für die Erklärung des Schlafs oft eine eigenartige Verbindung von physiologischen Konzepten und Seelenlehre herangezogen. So meinte der britische Arzt und Physiologe Alexander Stuart, der Schlaf sei die Folge eines Knappwerdens des "animalen Lebensgeistes" ("spiritus animales"), der durch Arbeit und Bewegung erschöpft und ausgezehrt werde. Für den niederländischen Arzt Herman Boerhaave wird der "spiritus nervosi" durch das Gehirn aus dem Blut abgesondert. Der Schlaf komme dadurch zustande, dass die Flüssigkeit ("liquor") im Gehirn in ihrer Bewegung gehindert werde, sich verbrauche und deshalb feine Gefäße und Nerven, die vom Gehirn zu den Sinnesorganen und willkürlichen Muskeln zögen, nicht mehr füllen könne.

Die Theorie hat mit jener des Schweizer Arztes und Naturforschers Albrecht von Haller (1708-1777) gewisse Ähnlichkeiten, der meinte, das im Kopf verdichtete Blut komprimiere das Gehirn und schneide dadurch den Weg des "spiritus" in die Nerven ab. Für den deutschen Physiologen Jacob Fidelis Ackermann (1765-1815) spielte der damals neu entdeckte Sauerstoff eine besonders wichtige Rolle, indem er aus der eingeatmeten Luft den "Lebensäther" abscheide. Über das Blut gelange dieser ins Gehirn, wo er abgetrennt und gespeichert werde. Von den "Hirnkräften" in die Nerven und Muskeln getrieben, rufe er "animale Bewegung" hervor. Ermüdung führe zu einem Mangel an Lebensäther, doch im Schlaf könnten die Vorräte wieder aufgefüllt werden.

Mit der im 19. Jahrhundert aufkommenden Naturphilosophie rückten vorübergehend vermehrt mystische Konzepte in den Vordergrund. So schrieb Philipp Franz von Walther, Professor für Physiologie und Chirurgie: "Der Schlaf ist eine Hingebung des egoistischen Seyns in das allgemeine Leben des Naturgeistes, ein Zusammenfließen der besonderen Seele des Menschen mit der allgemeinen Naturseele."

Die Entwicklung der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert führte zu Theorien, die den Schlaf ausschließlich auf physiologischer und chemischer Grundlage zu erklären suchten.

So sah zum Beispiel Alexander von Humboldt die Ursache des Schlafs in einem Sauerstoffmangel, der Bonner Physiologe Eduard Friedrich Wilhelm Pflüger in der verminderten Aufnahme von Sauerstoff in die "lebenden Gehirnmoleküle". Andere meinten, die Hauptursache liege in einer Blutleere der Hirnrinde, im Druck aufs Gehirn, in der Quellung der Nervenzellen oder in einer Umlagerung elektrischer Ladung in den Ganglien.

Der deutsche Physiologe Wilhelm Thierry Preyer vertrat in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts die Meinung, Ermüdungsstoffe absorbierten den Sauerstoff aus dem Blut, der deshalb für die Funktion des tätigen Hirns nicht mehr zur Verfügung stehe. Er glaubte diese Stoffe als Milchsäure und Kreatin identifizieren zu können.

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