Der neue Roman von T. C. Boyle:Sprechstunde bei Dr. Sex

"Wir sind bloß menschliche Säugetiere." T. C. Boyle hat einen Roman über Alfred C. Kinsey geschrieben. Das ist jener Wissenschaftler, der unseren Großeltern erst den Geschlechtsverkehr erklärt und dann erlaubt hat.

JULIA ENCKE

Mit ihm begann die sexuelle Revolution. Er wusste das.

Der neue Roman von T. C. Boyle: Alfred Kinsey, Mitte, im Jahr 1953 und einige seiner Mitarbeiter, mit denen er problemlos ganz viel Sex hatte.

Alfred Kinsey, Mitte, im Jahr 1953 und einige seiner Mitarbeiter, mit denen er problemlos ganz viel Sex hatte.

(Foto: Foto: UPI / SZ-Archiv)

Und doch hatte weder Alfred C. Kinsey noch der engste Kreis seiner Mitarbeiter mit dem tornadogleichen Wirbel gerechnet, der losbrach, als im Januar 1948 sein Buch über "Das sexuelle Verhalten des Mannes" erschien: Das Institutstelefon hörte nicht mehr auf zu klingeln.

Journalisten wollten Interviews, Zeitschriften-Verleger mit ihm verhandeln, Ärzte beschimpften ihn, und Frauen wie Männer drängten darauf, ihm sein Herz auszuschütten.

"Prok", wie seine Vertrauten zuhause an der Uni in Bloomington, Indiana, ihren Professor nannten, wurde binnen kürzester Zeit zum bekanntesten Amerikaner nach dem US-Präsidenten.

Für sprichwörtliche "sex Dollar fünfzig" ging sein Sexbuch weg wie warme Semmeln, während im Radio und in der Jukebox Martha Rayes "Ooh, Dr. Kinsey" und der legendäre "Kinsey Boogie" rauf und runter liefen.

Kinsey wurde geliebt und gehasst, verehrt und - spätestens nach Erscheinen seines zweiten Bandes, "Das sexuelle Verhalten der Frau" - ernsthaft verfolgt.

Denn die Statistiken über die sexuellen Aktivitäten des Mannes in Ehe- und ganz anderen Betten, mit Prostituierten von Indianapolis, in der Schwulenszene von Chicago oder mit Tieren auf den Farmen des Mittelwestens, waren das eine.

Dass "Dr. Sex" im zweiten Teil jedoch auch dem weiblichen Geschlecht eine eigene Sexualität einräumte und akribisch belegte, 62 Prozent der amerikanischen Frauen hätten schon masturbiert und 50 Prozent vorehelichen Verkehr gehabt - das ging gar nicht.

Sprechstunde bei Dr. Sex

McCarthy diffamierte den bekennenden Republikaner Kinsey stur als Kommunisten, und FBI-Cef J. Edgar Hoover - im Privaten ein leidenschaftlicher Träger von Damenunterwäsche - legte umfangreiche Akten über ihn an.

Es gibt wohl nichts, was die Doppelmoral des puritanisch-sexbesessenen Amerika besser vor Augen führt als die Wirkungsgeschichte der biologistischen Datensammlung Alfred C. Kinseys.

Und selbst wenn man immer meint, dass sich seit den fünfziger Jahren so einiges verändert hat, wenn sich längst viele enthemmt und befreit glauben, verwundert es am Ende doch nicht, dass das bloße K-Wort zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch Sprengstoff sein kann: Als im Zuge einer neuen Kinsey-Renaissance vor wenigen Monaten der Regisseur Bill Condon seinen Film "Kinsey" mit Liam Neeson in der Hauptrolle auf die Leinwand brachte und der etablierte Punk unter den Bestseller-Autoren, T. C. Boyle, einen Roman über "Dr. Sex" veröffentlichte, standen, déjà-vu-artig, die üblichen Verdächtigen auf der Matte.

Die "Traditional Values Coalition", der 43000 Kirchen angehören, ließ es sich nicht nehmen, den Zoologen noch einmal als den "einflussreichsten sexuell Perversen in der Geschichte der Nation" zu bezeichnen und bibeltreue Fundamentalisten dazu aufzurufen, alle weiteren Produktionen der Fox-Filmstudios zu boykottieren.

Der öffentlich-rechtliche Sender Channel 13 wies einen Werbespot für den Film zurück, weil er "zu provokativ" sei. Kinsey dürfte sich im Grabe umgedreht und sehnsüchtig nach Europa geblickt haben, wo weder der Film, der Ende März bei uns in die Kinos kommt, noch der gerade auf Deutsch erschienene T. C. Boyle Gefahr laufen, zum Skandal auszuarten - nach Kinsey-Maßstäben eine deutliche Errungenschaft.

"Ich bin sicher, ich hätte ihn absolut unerträglich gefunden", hat Boyle in einem Interview über seinen Protagonisten gesagt. "Ich glaube, das wäre jedem so gegangen, es sei denn, man wäre einer seiner Jünger gewesen. Kinsey war völlig egomanisch. Für ihn war nur sein Projekt wichtig - und damit er selbst. Der Mann war hochgebildet, Professor, und hat in den vierziger Jahren nicht ein einziges Mal über den Weltkrieg gesprochen.

Oder über die Atombombe." Sein Roman ist aus diesem Grund auch keine uneingeschränkte Feier und, anders als der Film, alles andere als das romantische Porträt eines buchstäblichen Vorreiters.

Romantik ist Boyles Sache bekanntermaßen nicht. Er begibt sich in das Dickicht der Ambivalenzen, der uneingestandenen Widersprüche. Was ihn interessiert, ist der bittere Beigeschmack der Befreiung. Also hält er sich, wo es um die Person Kinsey geht, detailgenau an die historische Überlieferung, erfindet sich aber einen hübschen, talentierten und ewig stotternden Studenten, den engsten Mitarbeiter Proks, John Milk, den er erzählen lässt, den er vorführt und den er in die Enge treibt.

Niemand, außer Kinsey, glaubt so sehr an "die Sache" wie John Milk. Niemand folgt ihm so bedingungslos nach, ist, wenn es sein muss, rund um die Uhr zur Stelle, schläft mal mit ihm, mal mit der Professorengattin Mac und vergisst irgendwann sogar, bei den Tausenden von Interviews, die sie führen, und in denen Amerikaner aller Schichten über ihre sexuellen Gewohnheiten und Erfahrungen befragt werden, zu erröten.

John Milks Geschichte ist die Geschichte eines Meisterschülers, und sie wäre die einer steilen Karriere, wäre da nicht Iris, Milks junge Frau, die gegen den Guru und dessen das Privatleben der Mitarbeiter völlig vereinnahmende Doktrin aufbegehrt.

Dass ihr Ehemann mit Kinsey hunderte Männer einlädt, einer nach dem anderen vor der Filmkamera und auf ausgerolltem, den Teppich schützenden Papier zu onanieren, um herauszufinden, ob während der Ejakulation die Samenflüssigkeit unter Druck "herausgespritzt" werde oder ob sie "tröpfelnd" herausquillt - das ist sein Job, damit kann sie leben.

Dass aber auch sie sich, wie die anderen, an den Mitarbeiter-Experimenten beteiligen und am Ende von Prok höchstpersönlich beschlafen lassen soll ("Wir sind bloß menschliche Säugetiere!"), das geht ihr zu weit.

Boyle lässt den zwischen Prok und Iris hin- und hergerissenen John Milk wie einen Hund leiden, ohne sich am Ende für die eine oder die andere Seite zu entscheiden. Mit Kinsey erklärt er Sex zur selbstverständlichsten Sache der Welt und beharrt gleichzeitig auf dessen eigenwilligem Zauber. Es ist diese Zerrissenheit, die sein Roman zu einem aufregend quälenden Porträt Kinseys macht.

T. C. BOYLE: Dr. Sex. Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München 2005. 470 Seiten, 24,90 Euro.

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