Der neue Roman von Colm Tóibín:Und dann?

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Der irische Schriftsteller Colm Tóibín erzählt in "Haus der Namen" mit schlichter Sprache die Geschichte der Klytämnestra, beginnend mit deren Gattenmord. Es ist aber keine Nacherzählung der "Orestie", sondern vor allem ein Roman darüber, wie man wieder zusammenfindet.

Von Catrin Lorch

Ich zeigte ihm das Messer, richtete es erst gegen seine Augen, bis er zurückzuckte, und dann stach ich ihm in den Hals, gleich unter dem Ohr, trat ein wenig beiseite, um dem Strahl von sprudelndem Blut auszuweichen, und dann stach ich tiefer hinein und zog die Klinge weiter durch seine Kehle, schnitt tief in ihn hinein, während das Blut in glatten gurgelnden Wellen über seine Brust hinabfloss." Colm Tóibín beginnt seinen Roman "Haus der Namen" mit einem Schnitt durch die Kehle. Es ist der berühmte Gattenmord der Klytämnestra, die ihrem Mann Agamemnon den Hals durchschneidet.

Frappierend ist zunächst, wie wenig archaisch das erscheint. Schon weil das Smartphone, das man gebraucht gekauft hat, zwischen Musikvideos gleich zwei solcher Hinrichtungen gespeichert hat. Das 21. Jahrhundert hat offensichtlich wieder Bedarf an solchen Morden und solchen Bildern. Und die Kluft, die nach so einem Schnitt bleibt, teilt die Gegenwart und spaltet Gesellschaften. Aischylos' antikes Drama "Die Orestie", das der Autor Colm Tóibín zitiert, umkreiste den Übergang von gottgewollter Rache zu menschlichem Recht. Es ist aber nur der Ausgangspunkt für Colm Tóibín, der erzählt, wie es weitergehen kann, wie man wieder zusammenfinden könnte nach der Katastrophe. Es ist in diesem Sinn eines der wichtigsten politischen Bücher dieser Zeit.

Das Haus "voller Namen", das dem Roman den Titel gibt, taucht in Aischylos' Orestie nicht auf

Der im Jahr 1955 in Enniscorthy geborene Autor ist als Ire zutiefst vertraut mit einer Gesellschaft, die von Terror und Gegenterror geprägt ist. Er hat nicht nur reflektierte Essays über die Zeit geschrieben, in der Irland kolonisiert war, er hat auch die daraus resultierenden Mythen betrachtet, ist die inner-irische Grenze abgegangen und hat denen zugehört, die dort leben und von Rache und Verzeihung berichten. Man ist womöglich umsichtiger, wenn man aus der Ecke der Underdogs stammt, auch hellhöriger für alle Äußerungen der Macht. Colm Tóibín hält seine Sprache schlicht. Eines seiner bekanntesten Bücher war zuletzt "Marias Testament", der skeptische Bericht von Jesu Mutter, die bis dahin in tausenden von Jahren doch eigenartig stumm geblieben war. Vor allem dieses Buch erscheint jetzt fast wie eine Einstimmung seiner Adaption der "Orestie". Denn die erste Berichterstatterin ist Klytämnestra, die ihren Mann, den König und Kriegshelden Agamemnon, umbringt, weil der vor dem Feldzug gegen Troja ihre Tochter Iphigenie den Göttern geopfert hat. So wird nicht nur der Mord aus ihrer Perspektive erzählt, sie darf die Ereignisse auch einordnen in einen Epochenbruch: "So lange er lebte, glaubten er und seine Männer, dass die Götter ihre Schicksale verfolgten und Anteil an ihnen nahmen. Aber jetzt werde ich verraten, dass es nicht so war, es nicht so ist." Was Klytämnestra nicht ahnt: Auch mit den überkommenen Hierarchien hat es ein Ende. Der Tod des Königs, sein Fall, steckt nur die Möglichkeiten ab, die Colm Tóibín ausspielen wird, dessen Figuren alle irgendwann im Verlauf der Geschichte im Verlies landen, sich alle aber auch an anderer Stelle an der Spitze wähnen dürfen.

„Der Geist der Klytämnestra erweckt die Furien“ – John Dowmans Gemälde von 1781. (Foto: imago/Artokoloro)

Der Monolog der Klytämnestra ist dicht formuliert, die Handelnden sind sich durchweg ihrer Bedeutung und Historizität bewusst. Nicht nur die Königin, die nach dem Messer greift, ohne die Götter oder das Orakel zu befragen. Auch Achill, der junge Held, der Iphigenie als Bräutigam versprochen war. Er fürchtet, dass sein Name, verstrickt in diese familiäre Intrige, einst nichts bedeuten werde. "Nur Ohnmacht, nur ein Name, mit dem man ein Mädchen in die Falle gelockt hat." Und der Krieger Agamemnon ist ohnehin nur noch ein Geschichtenerzähler, verbreitet "aufgeblähten Lärm", ist so "mit Reden beschäftigt, dass er kaum mitbekam, wohin wir uns bewegten".

Vor dem Tod kommt die Stille. Ein Netz lähmt den König im Bad: "Ich wollte nicht, dass man auch nur einen Ton von ihm vernahm." Und auch die Männer, die der Mörderin helfen, nach der Tat den Landfrieden wieder herzustellen, sind dazu erzogen, "bei der Sache zu sein, kein Getue zu machen. Es durfte kein Geschrei und keinen Jubel geben; vielmehr war eisernes Schweigen geboten".

Dann wechselt die Perspektive. Das folgende Kapitel berichtet von der Verschleppung und Flucht von Orest, dem Thronfolger, der gemeinsam mit den Söhnen und Enkeln der Ältesten in einem fernen Land unter brutaler Bewachung steht. Um den naiven Klang einer Kinderstimme zu vermeiden, wird in der dritten Person erzählt, und in einem vollkommen anderen Rhythmus

Colm Tóibín gönnt seinen Lesern fern des Palasts eine Robinsonade, während der drei Jungen gemeinsam fliehen und bei einer alten Frau Zuflucht und eine neue Heimat finden. Mitros und Leandros, die Gefährten, kommen in Aischylos' Orestie nicht vor. Genauso wenig wie der abgelegene Hof, dessen einstige Bewohner die Alte bei der Flucht zurückgelassen haben, in einem Haus, das einst "voller Namen" war und jetzt seinem Roman den Titel leiht.

Das Buch endet mit der Hoffnung auf eine neue Zeit

Die Götter, die Macht, der Krieg haben nicht nur die Verhältnisse im Königshaus zersetzt, sie lösen alle Familienbindungen auf, bis in die Provinz hinein. Aber ausgerechnet diese Unverbundenheit ist das Fundament, auf dem das Idyll im "Haus der Namen" gründet, wenigstens vorübergehend. Orest stellt sich nicht nur vor, "Leandros und Mitros wären seine Schwestern Iphigenie und Elektra", sondern auch, dass "die alte Frau seine Mutter" wäre. Die lange Episode, während der die Jungen erwachsen werden, entfaltet sich vielstimmig, gibt Geplauder, Märchen, Mythen und Träumen Raum, jeder Art von auf Verständigung angelegtem Austausch, vom Pfeifen bis zum Trauergesang. Der Roman darf in diesem Kapitel, in dem sich Orest und Leandros ineinander verlieben, einmal Luft holen, bis die beiden in ihre Heimat aufbrechen.

Dem "Haus der Namen" steht der Palast nun als "Haus des Flüsterns" gegenüber, ein Ort, an dem - wie Elektra ihren zurückgekehrten Bruder warnt - jedes Wort gehört wird: "Als er sich an die Stille gewöhnt hatte, erkannte er, dass es keine ganz richtige war. Er begann, Geräusche zu hören - zum Beispiel wie jemand leise den Korridor entlangging, oder undeutliches Flüstern und dann eine Zeitlang nichts."

Auf diesen Fluren herrscht Aigisthos, einer der vielschichtigsten Charaktere des Buches. Als Geisel im Verlies wanderte der Barbar nachts durch die Räume, keine Tür war ihm verschlossen. Als Klytemnästra ihn als Verbündeten gewinnen will, antwortet er berechnend: "Wenn du dich nicht meiner bedienst, tut's vielleicht ein anderer." Aigisthos steigt auf zum Wächter und Geliebten der Herrscherin und bewegt sich dann zwischen Thronsaal, Ältestenrat, Wachstube und Wäschekammer mit der Geschmeidigkeit eines Diplomaten. Das alte System ist zerlöchert, und die Durchlässigkeit der Burgmauern entspricht einer Zersetzung der Macht. Auch wenn Aigisthos nachts das Bett mit Klytämnestra teilt, so sind es doch die Dienerinnen, "die von ihm schwanger waren oder bereits ein Kind von ihm hatten". Während die Königsfamilie immer kleiner wird, sind die "Räume im Untergeschoss von Fruchtbarkeit erfüllt".

Colm Tóibín: "Haus der Namen". Roman. Aus dem Englischen von Giovanni Bandini und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2020. 288 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Orest, der heimgekehrte Sohn, weigert sich zunächst noch stolz, mit so einem wie Aigisthos überhaupt den Tisch zu teilen. Als sich irgendwann bis zu ihm herumspricht, dass Klytämnestra seinen Vater getötet hat, ist es aber schon fast zu spät - und halb aus Notwehr, halb in der Hoffnung, er könne mit der Tat seine Schwester Elektra gewinnen und die Nähe zu seinem Freund Leandros wieder herstellen, kommt es zum Muttermord.

Danach muss wieder ein Frieden hergestellt werden. Drinnen herrscht Elektra, draußen Leandros und die Rebellen, Orest, dem Muttermörder, weichen sie aus. Alle sind "zur Einsamkeit verdammt", leben "in einem komplexen Netz von Plänen und Bündnissen, dessen verwickelte Feinheiten nur sie selbst durchschauten". Es ist nun an Orest, den Bann zu brechen. Nicht durch den Mord an der Mutter, sondern durch das, was er als Vater zu tun bereit ist.

Denn Leandros' Schwester Ianthe, die als einzige einen Anschlag auf ihre Familie überlebte, sucht seine Nähe, auch nachts. Als sie schwanger ist, wird eine Heirat vereinbart. Doch wieder ist nichts, wie es scheint. Ianthes Körper, diese letzte Zuflucht, die Orest noch geblieben ist, er ist ihm verschlossen. Das Kind, so gesteht sie, ist das Ergebnis einer Vergewaltigung durch die Mörder ihrer Eltern, gleich fünf Soldaten kommen in Frage - auch sie sind alle längst tot. Elektra, die Schwester, und Leandros, der Bruder, wollten das vor Orest geheim halten, aber Ianthe will ohnehin "mit dem Kindchen fort".

Es ist dieser Moment der unauflöslichen Verwirrung aller Verhältnisse, in dem Orest einfach Frieden schließt. "Das Kind ist hier in unserem Haus gewachsen", sagt er, es werde "in diesem Haus geboren werden". Das alte Denken hätte diese Vaterschaft als Ende seines Geschlechts verstanden. Orest stellt dagegen fest: "Wir können keinen mehr verlieren." Colm Toíbin hat den alten Stoff zur Formel für die Gegenwart gemacht, indem er alles aufgegeben hat, das dem Überleben im Weg steht: Götter, Helden, Macht, Familienbande. Wenn es ums Überleben geht, müssen neue Geschichten erfunden werden, solche, die allen gerecht werden. Es ist eine Formel, die nur einfach klingt - es braucht lebenskluge Erzähler für dieses Narrativ. Das Buch allerdings kann bester Hoffnung enden: Ianthe bleibt. Und die Geburt bringt die beiden Geschwisterpaare wieder zusammen, getrennt nur durch die Tür von Elektras Zimmer, in dem Ianthe das Kind zur Welt bringt. Im ersten Morgenlicht stehen Leandros und Orest auf dem Flur, "achtsam auf jedes Geräusch". Aber es ist nicht die Intrige oder der Verrat, dem sie auflauern, nicht Flüstern oder Raunen. Sondern ein Schrei, der erste Laut eines Kindes, mit dem alles anders wird.

© SZ vom 17.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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