Der neue Bayreuther "Tristan":Lemuren im Wartesaal - wie immer

Wagner für den Überwachungsstaat und eine Bayreuther Bankrotterklärung in Sachen "Tristan": Christoph Marthaler scheitert inhaltlich mit seiner frostigen Interpretation und Dirigent Eiji Oue läßt sie vergeigen.

REINHARD J.BREMBECK

Wie desolat es in unserer Welt zugeht, ist im neuen Bayreuther "Tristan" recht anschaulich zu erleben.

Der neue Bayreuther "Tristan": Szene aus Marthalers Inszenierung der Wagner-Oper 'Tristan und Isolde'.

Szene aus Marthalers Inszenierung der Wagner-Oper 'Tristan und Isolde'.

(Foto: Foto: AP)

Während lange Zeit Stück, Regie und Musik dieser unglücklichen Liebesgeschichte nicht zueinander finden, sondern sich in diversen Stadien des Ungenügens umeinander herumdrücken, gelingt zuletzt doch ein Moment der Versöhnung.

Tristan hat gerade neben einem von einer Balustrade umrahmten Krankenhausbett sein Leben ausgehaucht, als sich auch schon der Rest des Bühnenpersonals nicht allzu eilig in sein Kellerverlies bemüht.

Da ist der humpelnde Tristan-Diener Kurwenal im Schottenrock - was wohl wenig ironisch auf die keltische Herkunft des Stoffs verweisen und auch den rohen Charakter dieses Haudraufs unterstreichen soll. Dann Isoldes Vertraute Brangäne, fesch herausgeputzt: Wird sie etwa die neue Chefin im Land dieser Lemuren?

Da ist King Marke, diese graue Maus ohne Gefühle, ein völlig vergreister Erich Honecker, Führer eines Landes und einer Gemeinschaft, die sich schon jenseits der Agonie in unsäglichem Zustand befindet.

Und da ist vor allem Isolde, so frisch und unbeteiligt wie seit Beginn des Stückes. Erst als alle anderen betreten und mit dem Gesicht zur Wand ihrem Liebestod nicht lzusehen wollen, scheint ihr zu dämmern, dass ihre Gefühle für Tristan doch mehr bedeuteten als eine harmlose Romanze.

Lemuren im Wartesaal - wie immer

Erstmals wird die Furchtbarkeit unserer Welt erfahrbar, die große Gefühle nicht zulassen kann, weil sie die hart erarbeiteten sozialen und inneren Sicherheiten gefährdet, Menschen völlig unberechenbar macht, so dass sie unbedenklich alle Konventionen und Absprachen mit Füßen treten würden, um sich diesem verrückten, unbedingten Verlangen nach einem anderen Menschen hinzugeben.

Aber soweit kommt es in Christoph Marthalers Inszenierung nie. Anna Viebrock hat einen trostlosen Innenraum für das Outdoor-Stück gebaut, der von Akt zu Akt höher rutscht und ein tieferes Stockwerk zeigt: muffiger Wartesaal, gelbes Paradieszimmer, Kellerverlies.

Darüber kreisen Neonröhrenringe wie Ufos. Assoziationen an die DDR-Verfallszeit sind, auch in den Kostümen, unübersehbar. Der Überwachungsstaat, unser Staat also, den Marthaler in Viebrocks Verlies so trostlos wie konsequent inszeniert, funktioniert perfekt. Das trifft Wagners Intentionen, deshalb ist ein Liebestrank nötig: Damit Isolde und Tristan sich endlich zueinander bekennen.

Aber was in dieser oft peinlichen, hier dezent unterspielten Szene passiert, enttäuscht geradezu skandalös. Die beiden trinken, setzen sich weit entfernt voneinander in Fauteuils, irgendwie ahnend: Da war doch noch was?! Dass es Liebe sein könnte, darauf kommen sie bei Marthaler trotz vier Stunden sex- und liebestrunkener Musik in keinem Augenblick. Davon haben sie noch nie etwas gehört, das haben sie noch nie erlebt und noch nie bei jemand anderem gesehen.

Dieser "Tristan" wird bei dem Regie-Extremisten Marthaler szenisch auf fast berührungsfreie und fernste Liebes-Ahnung heruntergeholt.

Die Kontrollkrallen des Staates greifen so gut, dass sich selbst unter Einfluss härtester Drogen (Liebestrank!) kein Gefühl einstellt, das die eigene Existenz gefährden könnte. Das zeigt der Regisseur in reduziertesten Bewegungen mit Vorliebe für den Mittelgrund, der allenfalls bedrohtes, aber kein vitales Zentrum mehr ist. Konsequenter kann man sich "Tristan", Bayreuth und dem VIP-Popanz nicht mehr verweigern: Eine Zumutung, die als solche einhellig empfunden wird - Viebrock und Marthaler kriegen ein gewaltiges Buhgetöse ab.

Was gewiss ungerecht ist. Denn Marthalers auf Gefühllosigkeit beschränkte Haltung gegenüber diesem Stück ist so provokant intellektuell wie hoch musikalisch.

Er zeigt, wie unlebenswert wir uns diese Welt aus sozialen und Sicherheitsängsten eingerichtet haben.

Dadurch lässt er, ganz Gentleman, immer der Musik den Vortritt, die als Femininum stets unzähmbarer Antipode der Macht war. Es ist nämlich, so Marthalers Kalkül, die Musik, die keinen Ort im Leben hat, aber tief im Menschen rumort, die Liebe gebiert, die Sehnsüchte, die Anarchie, die unendliche Lust, die permanente Revolution, die unmöglichen und schönsten Träume. Marthaler und Viebrock machen auf der Bühne all das, was nicht Musik ist, und schaffen damit einen imaginären Raum, in den Wagners Traum- und Sehnsuchtsmusik einströmen könnte, in dem sie blühen, gedeihen und ihre verlockende Gefährlichkeit entfalten könnte.

Doch da strömt nichts in Bayreuth, entfaltet sich nichts.

Lemuren im Wartesaal - wie immer

Während der Regisseur werktreu bleibt, versagen die meisten Musiker in kläglicher Werkuntreue.

Dirigent Eiji Oue, ein Anfänger in Bayreuths akustisch tückischem Orchestergraben, ist verliebt in pragmatisches Machertum, Lautstärke, Hochdruckmusizieren und verfrühte Höhepunkte.

Wie rasch er im "Liebestod" nach wenigen Takten das Lautstärkelimit erreicht, das ist schon verblüffend. Wie hart er Streichertremoli schrappen lässt, wie wattig-schattig die Holzbläser klingen können, wie kleinteilig die großen Bögen aufgesprengt werden, wie unsensibel er Sänger überrollt - das ist schon überraschend.

So handwerklich verschraubt er auch vorgeht, so wenig Gefühl hat er für magische Valeurs, für visionäre Momente, fürs innere Glühen der Klänge, für die Verästelungen der Polyphonie, die immer die Singstimme mit einbeziehen, aber nie in den Hintergrund verbannen sollten. Oue vertut die große Chance, einen musikalisch triftigen Gegenentwurf zur DDR-tristen Marthaler/Viebrock-Welt zu schaffen. Er fällt dem Bühnenteam in den Rücken und entzaubert Partitur wie Aufführung.

Ein weiteres Skandalon: die Textverständlichkeit.

Vermutlich wird in der Originalsprache, in p- oder q-Keltisch gesungen. Jedenfalls ist meist fast nichts zu verstehen. Und das in Bayreuth, im "Tristan" mit seinen vielen Erzählungen und Monologen.

Wagner würde im Grabe rotieren, und seine Nachfolger sollten ernsthaft darüber nachdenken, ob nicht ab sofort übertitelt werden müsste.

Denn diese Musik reagiert immer seismographisch illustrierend auf den Text. Der Meister schreibt - das konnte er nicht - nie absolute Musik, die ihre Logik aus sich selbst heraus entwickelt.

Er hängt sich vielmehr emotional ausschmückend an den Text, er konterkariert ihn, er ergänzt ihn durch Ahnungen, Querschläge, Visionen, Rückblicke. Nur dann macht diese Musik Sinn, wenn der Text als unmittelbar verständliches Zentrum gepflegt wird - andernfalls ist sie eine recht sinnlose Reihung brillant gemachter Einzelereignisse.

Besonders Nina Stemme als Isolde tut sich in dieser Hinsicht hervor. Bei ihr ist im ersten und zweiten Akt so gut wie kein Wort zu verstehen. Mag sein, dass das eingefleischten Wagnerianern wenig ausmacht - die kennen den Text zum Großteil auswendig.

Für eine öffentliche Aufführung ist solch ein instrumental durchmusikalisiertes und textfernes Singen ein Unding. Dabei besitzt Nina Stemme durchaus die Klangkraft, sich gegen eine großes Orchester zu behaupten. Allerdings wird ihre wenig charakteristische Stimme dann scharf in der Höhe und unhörbar in tieferen Bereichen.

Wirklich gepflegtes, leises Singen ist von ihr kaum zu hören. Dafür fährt ihr der Dirigent allzu oft unsensibel dazwischen.

Stemmes Gegenstück ist Robert Dean Smith als Tristan. Anna Viebrock hat ihn als Mittelstandsmanager unvorteilhaft verkleidet. Die Botschaft ist klar: Auch solche Technokraten kann die große Liebe erwischen.

Dean Smiths Stimme hat in den letzten Jahren an Leuchtkraft zugenommen. Nur ist und bleibt sie eine lyrische Stimme, die im "Tristan" nichts verloren hat. Wagners Partitur verlangt für diese Partie einen Übermensch-Tenor. Jemanden, der leise und schnelle Passagen elegant singen kann (da ist Dean Smith ideal), der sich aber auch gegen die gewaltigsten Eruptionen des Orchesters souverän und klangschön durchsetzen kann - und das ist weit jenseits der Möglichkeiten von Dean Smith.

Zudem kommt es zwischen seiner zurückhaltenden, im Filigranen angesiedelten Stimme und Nina Stemmes Wucht nie zu einer betörenden Synthese.

Dass die beiden Sänger derart umjubelt wurden, zeigt nur, wie gering der Anspruch des Publikum mittlerweile selbst in Bayreuth geworden ist. Die restliche Besetzung verblasst vollends: Andreas Schmidts Kurwenal kämpft mehr mit den Tönen als mit Widersacher Melot, den Alexander Marco-Buhrmester nassforsch hinsetzt; die Brangäne Petra Langs verschleift ihre Linien ziemlich unindividuell; und der König Marke von Kwangchul Youn erstarrt bei seiner großen Tristan-Anklage auch musikalisch zu jener unbeteiligten Regungslosigkeit, die das Regieteam szenisch von ihm verlangt. So scheitert ein radikal konsequentes Theaterkonzept an einer unzureichenden musikalischen Aufführung: eine Bayreuther Bankrotterklärung in Sachen "Tristan".

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