Wie entstehen Revolutionen? Was bringt viele Einzelne dazu, gegen ein womöglich gewaltbereites System aufzubegehren? Diesen Fragen geht der Schweizer Dokumentarfilmer Andreas Hoessli in seinem so klugen wie poetischen Filmessay "Der nackte König" nach, einer Spurensuche über Masse und Macht, zwischen der Solidarność-Bewegung 1980 in Polen und der Islamischen Revolution 1979 in Iran. Ein historischer Film? Angesichts der Proteste in Belarus, Russland oder Myanmar ist das Thema brandaktuell.
Geisterbilder locken in ein Labyrinth widersprüchlicher Erinnerungen. "Wie kann ich ein System heute beschreiben, das nicht mehr existiert?", fragt sich Hoessli während einer nächtlichen Fahrt durch Warschau - und erinnert sich an den real existierenden Sozialismus. 1978 war der Regisseur selbst mit einem Doktorandenstipendium in Polen. Dabei interessierte er sich auch für die Gewerkschaft Solidarność, weshalb sich wiederum der polnische Geheimdienst für ihn interessierte. Ein Oberst a. D. erzählt dem Regisseur nun von dessen Akte, seinem Geheimdienstnamen "Hassan" und wie man ihn unter Druck setzen wollte. Wie Pappkameraden in einer Geisterbahn, die plötzlich hervorschießen, treten solche Details ans Licht.
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Als Sprecher ist Bruno Ganz zu hören, der immer wieder Phantome und Wiedergänger verkörpert hat - Hitler oder auch den überzeugten Stalinisten Wilhelm Powileit in Matti Geschonnecks Film "In Zeiten des abnehmenden Lichts". "Der nackte König" war eine von Ganz' letzten Arbeiten vor seinem Tod. Mit Ganz' Stimme erzählt Hoessli davon, wie er in Warschau auch dem legendären Reporter Ryszard Kapuściński begegnete. Ein Fernsehinterview von 1976 ist zu sehen, in dem Kapuściński über das verbindende Thema seiner Texte spricht: die Möglichkeit der Veränderung der Welt. Damit ist auch der Leitfaden von Hoesslis Filmessay benannt.
Die Revolte ist ein Abenteuer des Herzens, sagt ein Schriftsteller
Geschichte ist kein langer ruhiger Fluss, sie passiert in Sprüngen. Dazu passt Hoesslis nur auf den ersten Blick willkürliche Auswahl der Archivaufnahmen, dazu passen auch die harten Wechsel von Danzig nach Teheran, von den Endsiebziger- und Achtzigerjahren ins Heute. Hoesslis Montage folgt einer Reportagereise Kapuścińskis, der sich Ende der Siebzigerjahre auf den Weg nach Iran machte, wo es zu Massendemonstrationen und Streiks gegen den Schah kam. "Der nackte König" zeigt so prächtige wie gespenstische Archivaufnahmen, den Schah als "König der Könige", der sich göttergleich vorkam, sich selbst die Krone aufsetzte und das Volk verachtete. Hoessli trifft den Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan, der erzählt, wie er als Kind lernte, den Geheimdienst des Schahs zu fürchten.
Die Bilder der Massen, die 1978 in Teheran gegen den Schah auf die Straße gingen, sind spektakulär. Sie vermitteln ebenso wie die Aufnahmen der revoltierenden Arbeiter 1980 in Polen den Rausch der Revolution, ihren Sog. Es sind Sekunden der Menschheitsgeschichte, wenn die Menschen, wie es im Film heißt, den engen Rock ihrer Alltagsexistenz abstreifen und plötzlich alles möglich scheint. "Die Revolte ist ein Abenteuer des Herzens, der Mensch schüttelt die Angst ab und fühlt sich frei", zitiert Hoessli Kapuściński. Nach den erfolgreichen Verhandlungen mit der Regierung tragen die polnischen Arbeiter ihren verschmitzt lächelnden, jugendlichen Anführer Lech Wałęsa auf ihren Schultern - auch das ein besoffener Moment der Freiheit. Obwohl die Gewerkschaftsbewegung Solidarność kurze Zeit später verboten wurde, deutet sich da das Ende des Sowjetimperiums an.
Aber was hat die Menschen dazu gebracht? Es sind immer wieder auch ästhetische Antworten, die dieser Film auf politische, philosophische und psychologische Fragen gibt. Ein großartiger Fund sind etwa die schwarz-weißen Archivaufnahmen des Kameramannes Jacek Petrycki (er arbeitete unter anderem mit Krzysztof Kieślowski, Marcel Łoziński und Agnieszka Holland zusammen), die dieser 1980 vom Streik auf der Danziger Leninwerft drehte. Die Arbeiter sprechen von Freiheit und Demokratie und fordern die Abschaffung der Zensur - Themen, die zuvor nur die Intellektuellen diskutiert hatten. Petrycki nimmt die Gesichter der vielen Einzelnen nah in den Blick, schaut jedes lange an, um das Rätsel, das es birgt, durch geduldiges Hinsehen und Zuhören vielleicht zu enthüllen.
Die Aufnahmen der Anti-Schah-Proteste 1978 in Teheran zeigen dagegen Menschen als Masse. Als ein seltsamer islamischer Geistlicher 1979 aus seinem Exil in Paris nach Teheran kam, vom Flughafen zu einem Friedhof gefahren wurde, begleitet von einer aufgepeitschten Menge, war das eine politische Prozession. Die Revolte erscheint als Gottes- oder Götzendienst. Es sind Bilder, die nichts "erklären", aber fühlbar machen, warum das revolutionäre Ideal von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit so häufig verraten wird. Nach seinem Einzug in Teheran kündigte Ayatollah Khomeini an, die noch vom Schah eingesetzte Regierung nicht anzuerkennen. Es war der Auftakt zur Machtübernahme und Etablierung der Islamischen Republik.
Vierzig Jahre später, am Jahrestag der Islamischen Revolution, filmt Hoessli wieder Menschenmassen in Teheran. Sie skandieren: "Tod Amerika! Tod Israel!" Im Chor der Stimmen, mit denen Hoessli in seinem Film spricht, bleibt ein Vertreter der Macht in Iran im Gedächtnis, der das "Schicksal" von Regimegegnern erläutert: "Der Imam ließ zu Beginn der Revolution unsere ganze Nation in einen Zug steigen, und dieser Zug bewegt sich in Richtung Glück. Unterwegs steigen einige aus dem Zug aus, aus verschiedenen Gründen ... Sie können sich der Revolution nicht anpassen. Der Zug fährt in hohem Tempo und sie rennen zum Ende des Zuges. Dort sind sie gezwungen, auszusteigen."
Der nackte König - 18 Fragmente über Revolution , Schweiz, Polen, Deutschland 2019 - Regie, Buch: Andreas Hoessli. Kamera: Peter Zwierko. Schnitt: Lena Rem. Sprecher: Bruno Ganz. Verleih: W-Film, 108 Minuten.