"Der menschliche Körper" von Paolo Giordano:Zweimal Hölle und zurück

Deutsche Soldaten in Afghanistan

Deutsche Soldaten in Afghanistan.

(Foto: dpa)

Bestsellerautor Paolo Giordano hat einen eindrucksvollen Afghanistan-Roman geschrieben. "Der menschliche Körper" erzählt von gebrochenen Helden und falschen Rollenbildern - und dekliniert verschiedene Ausprägungen von Männlichkeit durch.

Von Maike Albath

Sie sind einundzwanzig Jahre alt, schaffen hundert Liegestützen hintereinander, harren unter der glühenden Sonne aus und sehnen sich nach Hause: italienische Soldaten in Afghanistan. Eine kaum domestizierbare Horde. Die jungen Männer liefern einen Querschnitt durch die Befindlichkeiten ihrer Generation.

Der sensible Ietri wuchs ohne Vater auf, verbrachte die letzte Nacht vor dem Einsatz im Hoteldoppelbett neben seiner Mutter und hatte noch nie eine Freundin. Der Leitwolf Cederna trägt ein auftrumpfendes Machotum zur Schau und weiß die Schwächen seiner Kameraden gnadenlos auszunutzen. Torsu hängt täglich in Chatrooms herum, Di Salvo vertreibt sich die Abende im Zelt des afghanischen Dolmetschers mit Marihuana, und der Familienvater Camporesi sorgt sich um seinen dreijährigen Sohn.

Vom Callboy zum Feldwebel

Schließlich gibt es noch den Sündenbock Mitrano und die zähe Soldatin Zampieri. Kommandiert wird die Truppe von dem 31-jährigen Feldwebel René, in Italien im Nebenjob als Callboy unterwegs, aber in Afghanistan ein verantwortungsbewusster Vorgesetzter. Der Einsatzort besteht für die Männer aus Schlamm, maroden Hütten, Zelten voller Staub und Ungeziefer, ihr Vorposten in der Provinz Herat scheint fast vergessen, die Außenwelt bleibt unverständlich, und über Wochen herrscht vor allem Ödnis.

Es ist ein komplexes Beziehungsgefüge, das der promovierte Experte für Teilchenphysik und Schriftsteller Paolo Giordano in seinem zweiten Roman entwirft. Geschickt arrangiert er Vorausschauen, Perspektivwechsel und Rückblenden, verzichtet auf einen Haupthelden und bildet stattdessen die Gruppendynamik ab, schürt die Spannung, die ihren Höhepunkt im mittleren Teil erreicht, als die Truppe einen afghanischen Lkw-Zug durch ein gefährliches Tal eskortieren muss und in einen Hinterhalt der Taliban gerät.

Gleichmütig gleitet die Erzählerstimme von Mann zu Mann, auch bei den Zuspitzungen ändert sich der Tonfall nicht. Giordanos großes Vorbild ist Coetzees "Schande". Auch sonst gibt es Bezüge auf Filme und Bücher, die von Buzzatis "Tatarenwüste" bis zu Homers "Ilias" reichen, eine besonders markante Erniedrigung aus "Full Metal Jacket" von Stanley Kubrick wird von den Soldaten sogar nachgespielt.

Am Ende gibt es Tote

Der Autor, der zweimal für 14 Tage nach Afghanistan reiste, sich an verschiedenen Stützpunkten aufhielt und sich von seinen Altersgenossen ihre Erfahrungen berichten ließ, nimmt keine Bewertung vor. Die Afghanistan-Mission wird weder als richtig noch als falsch gekennzeichnet. Doch Giordano benennt den hohen Preis - am Ende gibt es Tote.

"Der menschliche Körper" vermittelt mehr von der Wirklichkeit des Krieges als Dirk Kurbjuweits "Kriegsbraut" oder Linus Reichlins "Das Leuchten in der Ferne". Giordanos Roman handelt aber nicht nur von Kriegsgeschehnissen. Der Schriftsteller durchleuchtet einen bestimmten Ausschnitt der italienischen Gesellschaft und dekliniert verschiedene Ausprägungen von Männlichkeit durch. Sein Befund: Die üblichen Zuschreibungen funktionieren nicht mehr.

Unverwundbarkeit, Wagemut und Tapferkeit sind Kategorien, mit denen sich Giordanos Helden nur unzureichend beschreiben lassen. Dem Turiner Autor, der mit seinem Erstling "Die Einsamkeit der Primzahlen" über wohlstandsverwahrloste Jugendliche und die Abgründe bürgerlicher Familien einen der international erfolgreichsten italienischen Romane der letzten Jahre vorlegte und allein in Italien 1,3 Millionen Exemplare verkaufte, geht es auch in seinem neuen Buch um Beschädigungen, die meistens mit Kindheit und Herkunft zusammenhängen.

Auf die eigene Physis zurückgeworfen

Die Familien, die in den Köpfen der Soldaten herumgeistern, wirken wie Kriegsschauplätze in Miniaturformat. Die inneren Versehrungen bedingen das Verhältnis zum eigenen Körper. Afghanistan und die militärische Mission bleiben für die Kämpfer eine abstrakte Angelegenheit; in dem heruntergekommenen Zeltlager werden die Männer zunächst auf ihre ursprünglichsten Bedürfnisse zurückgeworfen.

Dem Leser vermittelt sich der Krieg über die Physis der Kompanie. Der bedürftige Ietri schläft vor seiner Abreise im Arm der Mutter ein, scheint sich seines Körpers kaum gewiss zu sein und opfert ihn dann als Schutzschild für einen Verletzten. René bietet seinen durchtrainierten Leib zahlungskräftigen Mittvierzigerinnen zum Kauf und zeugt ein ungewolltes Kind, und Oberstleutnant Egitto, Kompaniearzt und eine weitere zentrale Figur des Romans, ist von Schuppenflechte entstellt, sediert sich mit Antidepressiva und taugt für seine Vorgesetzte Irene dennoch zur Triebabfuhr.

Cederna braucht die körperliche Unterwerfung von Männern und Frauen. Der von der Ruhr gequälte Torsu gehorcht nur noch seinem Darm, was indirekt den Tod mehrerer Kameraden zur Folge hat. Und schließlich erzwingt der abgeschnittene Kopf eines afghanischen Lkw-Fahrers den gefahrvollen Konvoi durch das Tal, der für die Männer zu einem metaphorischen Abstieg in die Hölle wird. Inmitten einer panischen Schafsherde - eine der eindringlichsten Szenen des Romans - werden sie zur Zielscheibe unsichtbarer Feinde. Von diesem Einsatz kehren alle verändert zurück.

Ein unpopuläres Thema

Paolo Giordano entscheidet sich nach seinem gefälligeren Debüt für das unpopuläre Thema des Krieges. An seinen bahnbrechenden Erfolg konnte er nicht ganz anknüpfen; "Der menschliche Körper" verkaufte sich in Italien 70 000-mal. Giordanos literarischer Entwicklung nützt die Recherche in einem fremden Milieu. Sein eher biederer Realismus ist in dem neuen Roman aufgerauter, die Bilder sind drastischer, die Sprache bleibt noch eine Spur zu schlicht, aber gewinnt an Farbe. Mit dem Arzt Egitto gelingt ihm eine ambivalente, vielschichtige Figur.

Neben Melania Mazzuccos "Limbo" (2012), der kurz vor "Der menschliche Körper" erschien, ist es in Italien erst der zweite Afghanistan-Roman. Von seinem ersten Lektor Antonio Franchini bei Mondadori, verlässlicher Bestsellerproduzent und Kenner des Marktes, ist Giordano jetzt zu dem traditionsreichen Einaudi-Verlag gewechselt. Das Turiner Haus gehört zwar zum selben Konzern, aber vertritt ein weitaus ambitionierteres Programm. Im Mai wird dort eine neue Novelle von Giordano erscheinen. Genau wie seine Helden steckt auch er mitten im Umbruch.

Paolo Giordano: Der menschliche Körper. Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner, Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 416 Seiten, 19,95 Euro, E-Book 16,99 Euro.

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