Im Kino: "Der Masseur" von Małgorzata Szumowska und Michal Englert:Messias aus der Todeszone

Kinostart - 'Der Masseur'

Alec Utgoff als Zhenia "Der Masseur" im gleichnamigen Film von Małgorzata Szumowska und Michal Englert.

(Foto: Jaroslaw Sosinski/Verleih)

In ihrem Film "Der Masseur" erkunden Małgorzata Szumowska und Michal Englert Erlösungssehnsüchte im Spätkapitalismus. Eine Rettung ist nicht in Sicht.

Von Philipp Stadelmaier

Der Masseur kommt aus der Tiefe des Waldes. Er durchquert eine Straße, besteigt die Treppe einer Behörde und betritt ein Büro. Ein alter Beamter soll ihm eine Arbeitserlaubnis ausstellen. Doch etwas in dem Antrag ist seltsam. Der junge Mann hat nicht angegeben, welche Sprachen er spricht. "Ich spreche alle", sagt er mit regloser Miene. Woraufhin der Beamte, der in der Zwischenzeit noch einmal grauer und greiser geworden zu sein scheint, alle Formalitäten fahren lässt und sich mit wimmernder Stimme an ihn wendet: "Bitte, helfen Sie mir."

Das lässt sich der Antragsteller nicht zweimal sagen. Er steht auf und beginnt, den Beamten zu massieren, der sich unter seinen Händen sogleich entspannt - und einschläft. Aber der Behördenakt ist noch nicht vollendet, also setzt der junge Mann, der aus der Ukraine kommt, selbst eine Unterschrift und einen Stempel auf das Dokument, das ihn zur Arbeit in Polen berechtigt.

Der mysteriöse Physiotherapeut heißt Zhenia (Alec Utgoff) und wird von Małgorzata Szumowska und Michal Englert in ihrem Beitrag zu den letztjährigen Filmfestspielen von Venedig - deutscher Verleihtitel: "Der Masseur" - einer kränkelnden Menschheit gesandt. Die Wirkungsstätte des freundlichen, aber geheimnisvollen Handauflegers ist eine Gated Community in der Nähe von Warschau, durch deren Tor er jeden Morgen spaziert.

Auf dem Rücken trägt er seinen Massagetisch, den er in den Wohnzimmern der Siedlung aufstellt. Seine Kundschaft besteht aus dem traurigen und sehr verspannten Fleisch des Spätkapitalismus. Der Reichtum hat seinen Glanz verloren, in dieser Villen-Reihenhaussiedlung gleicht jedes Haus dem anderen, die Bewohner halten sich nur noch dank der regelmäßigen Einnahme von Psychopharmaka und Rauschmitteln auf den Beinen.

Dieser Heilsbringer hat eben doch keine magischen Fähigkeiten

Die mit der Erziehung der Kinder überforderte Hausfrau, der krebskranke Mann und der grimmige Ex-Militär: Sie alle brauchen Hilfe, Pflege und Entspannung. Und immer vollzieht Zhenia dasselbe Ritual. Er erspürt mit den Fingern den Stress, das Leid, die Schmerzen, die sich in den Körpern angesammelt haben, in ihren Muskeln, Faszien und Sehnen, und lässt sie durch seine Finger abfließen. Das behauptet er jedenfalls, mit sanfter, murmelnder Stimme. Dann schlafen die Patienten sofort ein, friedlich und erlöst.

Der Masseur ist also zugleich ein Hypnotiseur und auch eine Art Messias, wenngleich - wie jeder Messias - ein falscher. Zum einen, weil er dann doch nur ein Masseur ist: Ein Durchwalken der Muskeln und etwas Hypnose verschaffen nur temporäre Erlösung, bevor mit dem Bewusstsein das Elend zurückkehrt. Und dann ist da noch die Sache mit den Träumen. Normalerweise träumen die Menschen vom Erlöser. Bei Szumowska und Englert ist es der Erlöser selbst, der Träume hat. Womit er, der im kargen Zimmer eines Plattenbaus haust, selbst nach der Erlösung hungert, die er eigentlich bringen sollte.

Zhenias Träume drehen sich um die Vergangenheit, seine (gestorbene) Mutter und Tschernobyl, wo er geboren wurde, genau zur Zeit der großen Nuklearkatastrophe, in der Zone der höchsten Radioaktivität. Auffällig ist, wie sehr sich die Filmemacherinnen in diesen kurzen Traumsequenzen auf das Werk von Andrei Tarkowski beziehen. Eine Frau sitzt rauchend auf einem Zaun, den Blick von uns abgewandt, wie am Anfang von "Der Spiegel". Ein Kind lässt, den Kopf auf den Tisch gelegt, mit telekinetischer Kraft ein Glas zur Kante wandern, wie in der Schlusssequenz von "Stalker".

Erlösung gab es schon im Werk des großen russischen Filmemachers keine mehr. Es gab jedoch eine poetische Kraft des Kinos, die den Glauben an eine spirituelle Welt "hinter" der sichtbaren aufrechterhielt. Dieser Rest an Hoffnung wird von Szumowska und Englert in einer Szene auf erstaunlich präzise Art erst aufgerufen und dann wieder storniert. Auch der Masseur lässt, wie in "Stalker", durch schiere Gedankenkraft ein Glas über den Tisch wandern, doch dann wandert es sogleich wieder zu ihm zurück. Als hätte er es in Wahrheit nie vom Fleck bewegen können.

Die Szene ist selbstentlarvend: In den aufgeräumten, in trübem Blaugrau schimmernden Einstellungen des hochkonzeptuellen Films von Szumowska und Englert hat die poetische Kraft des Kinos keinen Platz mehr. Als würden die beiden zeigen wollen, dass niemand mehr an diese Kraft glauben kann - nicht angesichts der Probleme der heutigen Welt. Es ist, als hätte die Depression der Gegenwart endgültig Einzug in die Kunst, und in diesen Film, gehalten.

Szumowska und Englert enthüllen vielmehr die Sünden, die der privilegierte Teil der Menschheit begeht, während er den weniger privilegierten Teil aussperrt: pakistanische Essenslieferanten werden verspottet, SUVs fahren Passantinnen an, Bäume werden gefällt statt gepflanzt. Das Menetekel des Klimawandels ist allgegenwärtig. Mantraartig wird ein Satz wiederholt: "Es wird nie wieder schneien." Kein kommender Messias, der wie Zhenia "alle Sprachen spricht", wird die Menschheit vom Ökozid erlösen, den sie selbst zu verantworten hat. Das einzige unsichtbare, zukünftige Bild, das auf die Menschen hier noch wartet, das hinter der frostigen Schale dieses winterlichen Films verborgen liegt, haben wir heute bereits deutlich vor Augen: das Bild einer Welt in Flammen.

Never Gonna Snow Again, Polen / Deutschland 2020. - Regie und Buch: Małgorzata Szumowska, Michal Englert. Kamera: Englert. Mit Alec Utgoff, Agata Kulesza. Maja Ostazewska. Real Fiction, 113 Minuten.

Zur SZ-Startseite
Shane

SZ PlusInterview mit Julien Temple über "Shane"
:"Muss man so weit in den Abgrund schauen, um gut zu sein?"

Der britische Regisseur Julien Temple dreht Dokumentarfilme über Punk. Ein Interview über Ruhm als Droge und den Spirit der ewigen Rebellion.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: