Süddeutsche Zeitung

"Der Gymnasiast" im Kino:Papa, wo bist du?

In "Der Gymnasiast" schöpft Christophe Honoré aus der eigenen Biografie - und spielt selbst seinen früh verstorbenen Vater.

Von Philipp Stadelmaier

Der junge Mann, der neben seinem Vater auf dem Beifahrersitz hockt, hat sein ganzes Leben noch vor sich, als der Wagen von der Straße abkommt und sich überschlägt. Sie bleiben unversehrt, doch der Vorfall birgt eine düstere Vorahnung. Wenig später ist Lucas (Paul Kircher) wieder in seinem Provinzinternat und erhält die schreckliche Nachricht: Sein Vater hatte einen weiteren Autounfall, diesmal einen tödlichen.

Es ist seine eigene Lebensgeschichte, die Christophe Honoré in seinem neuen Film "Der Gymnasiast" erzählt. Lucas ist siebzehn, als er Halbwaise wird. Übrig bleiben seine Mutter (Juliette Binoche) und sein älterer Bruder (Vincent Lacoste), der im fernen Paris sein Glück als Künstler versucht. Über allen schwebt fortan der Schatten des toten Vaters - gespielt vom Regisseur selbst.

An ihn richtet Lucas, das Gesicht direkt in die Kamera gewandt, eine intime Beichte, was dem Ganzen eine selbstbezügliche und auch selbstmitleidige Dimension verleiht. Er, Lucas, hätte selbst bei dem ersten Unfall sterben müssen, klagt er, um dem folgenden Unglück zu entgehen. Überhaupt geizt er nicht mit großen Worten. Die Liebe, das Leben, der Tod werden beschworen, das Zurücklassen der anderen, um den eigenen Weg zu finden.

Sturm-und-Drang-Figuren, die regelmäßig auf die Schnauze fliegen

Honoré ist ein großer Romantiker. Seine Figuren folgen diffusen Begierden, preschen voller Sturm und Drang durchs Leben und fliegen dabei regelmäßig auf die Schnauze. So auch hier, wo Lucas nach dem Tod des Vaters zum Bruder nach Paris fährt, wo er bald den Boden unter den Füßen verliert. Nachdem er seinen ersten Freund im Internat zurücklässt, prescht er von einem Liebhaber zum nächsten. Er flirtet mit dem Mitbewohner des Bruders, schläft mit einem Online-Date und einem älteren Perversen. Die Leere wird gefüllt mit verwirrenden Gefühlen, flüchtigen Vergnügungen und zwischenmenschlichen Verletzungen, die dem jungen Leben und Leiden ein bittersüßes Aroma verleihen. Der kühl-bläuliche Schimmer über den Körpern lässt keinen Zweifel: Hier ist jemand einsam, entfremdet von sich selbst, auf der Suche.

Auf einer unruhigen Suche nach einer eigenen Identität befindet sich auch das Kino von Honoré, insoweit er sich stets als Adept der Nouvelle Vague verstanden hat. Gerade die frühen Werke "In Paris" und "Chanson der Liebe" waren Hommagen an François Truffaut und Jacques Demy. Im "Gymnasiasten" empfiehlt Maman Binoche dem Sohn, in Paris die Pont Neuf zu besichtigen, eine Anspielung auf den Film von Leos Carax, in dem die junge Binoche 1991 über die Seinebrücke tanzte. Das Vergnügen am Leben und das Vergnügen am Kino sind untrennbar verknüpft. Der Schmerz in diesen Filmen kommt daher, dass es ein Leben in Zitaten ist, ein nur geborgtes Leben und Genießen.

Damit ist es eine reine Kino-Welt, die Honoré öffnet. Politische Diskurse über rechtsextreme Politiker oder Rassismus im Kunstbetrieb werden nur angerissen, wie genervte Zugeständnisse an die Außenwelt. Und doch ist dieser Selbstbezogenheit die Ironie nicht fremd. Ein früherer Film, "Sorry Angel", endete am Grab von Truffaut auf dem Cimetière de Montmartre. Hier stehen die Figuren irgendwann am Grab des Vaters, der damit aus dem Film verabschiedet wird. Was figurativ auch wie ein Abschied des Cineasten Christophe Honoré von seinen Figuren verstanden werden kann, die er aus seinem Leben in ihr eigenes entlässt. Fortan müssen sie alleine klarkommen.

Le Lycéen, Frankreich 2022. - Regie und Buch: Christophe Honoré. Kamera: Rémy Chevrin. Mit Paul Kircher, Vincent Lacoste, Juliette Binoche. Salzgeber, 122 Min. Kinostart: 30. März 2023.

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