"Der grüne Heinrich":Die Evidenz von Gott und Würsten

Ein Bildungsroman, der zu nichts führt: Eine der seltsamsten Figuren von Gottfried Keller ist Frau Maragaret, die Trödlerin aus der Kindheit des Heinrich Lee.

Von Gustav Seibt

Müsste man rasch erklären, was für ein Buch "Der grüne Heinrich" von Gottfried Keller ist, dann wäre die einfachste Formel diese: ein Bildungsroman, der zu nichts führt. Heinrich Lee geht hinaus in die Welt, er erprobt sich als Künstler, nur um zu erfahren, dass er nicht genügt. Aber anders als in Goethes Wilhelm-Meister-Romanen folgt daraus nichts, keine Öffnung zur Wirklichkeit, keine Beschränkung auf konkrete Tüchtigkeit, sondern nur ein früher Tod (in der ersten Fassung) oder, fast schlimmer, ein resigniertes Weiterleben (in der zweiten). Darin liegt Kellers Entwicklungsroman erstaunlich nah an Gustave Flauberts "Education sentimentale", dem Epos moderner Ernüchterung mit seiner Erfahrung spurlos verschwindender Zeit.

Aber wie bei Flaubert kommt diese biografische Ziellosigkeit dem Zauber der erzählten Welt zugute. Die Prosa zeigt die bezwingenden Landschaftsbilder, die Heinrich als Maler nicht gelingen wollen. Wo kein Ziel mehr erreicht werden kann, bleibt alles Einzelne überraschend, in einer Abfolge glühender Bilder, sonderbarer Episoden, großer Anstrengungen, abgebrochener Anläufe. Die Vergeblichkeit am Ende ist so traurig, weil alles davor so reich und vielversprechend war. Und dieser Reichtum behält seine Rätselhaftigkeit, weil er zu nichts gut ist. Ein Buch wie eine Symphonie, die mittendrin stehen bleibt, ohne Akkord und Rundung. Das ist gewaltig, aber auch niederschmetternd.

Wegen seiner Ziellosigkeit trägt der Roman Züge einer alten Chronik, mit einem Sammelsurium skurriler Episoden - ein Quodlibet nannte man das früher, ein Wimmelbild der Kuriositäten. Womöglich die seltsamste Figur des Romans ist Frau Margret, die Trödlerin aus Heinrichs Kindheit. Sie kommt aus einem fernen Landesteil und aus der Tiefe der Zeiten. In ihrem Gewölbe häufen sich zweifelhafte Schätze, alte Gewänder, rostige Waffen, zerfetzte Gemälde, Geschirr und Porzellan, dubiose Bücher mit Legenden und Geheimwissen, der Schutt der Zeiten, halb prächtig, halb schäbig. Das Gewand der beleibten Trödlerin, die einen mageren Mann hat, folgt der Mode von vor hundert Jahren, in der Zeit des Romans also des frühen 18. Jahrhunderts.

Die Magie der Welt liegt in einer zauberischen Handgreiflichkeit

Frau Margret kann nicht schreiben und Gedrucktes nur mit Mühe lesen. Auch arabische Ziffern stehen ihr nicht zu Gebote, und das ist das deutlichste Zeichen, dass sie aus urältester Zeit stammt. Als Händlerin muss sie rechnen, aber dafür hat sie nur die römischen Ziffern I, V, X, und C. Mit weicher Kreide schreibt sie römische Zahlenkolonnen auf eine Tischplatte, die sie im Verlauf der Additionen und Subtraktionen eilig wieder wegwischt, ganz auf ihr unfehlbares Gedächtnis vertrauend. Das ist ihre Buchführung, samt Kreditwesen. Kein Wunder, dass in dieser Welt alle Überschüsse in barem Gold angelegt werden, dass aber ebenso oft in Naturalien bezahlt wird, mit Milch, Honig und Würsten.

Alles ist gegenständlich und konkret bei Frau Margret, auch die religiösen Anschauungen, über die in den Mußestunden bei ihr debattiert wird. Heidnische Sagen und Gestalten sind nicht fiktiv, sondern real und müssen vom wahren Gott ausgerottet werden. Es gibt sogar einen Atheisten, aber in Margrets Welt ist dies ein Mensch, "welcher seiner Überzeugung von dem Dasein Gottes zum Trotz dasselbe hartnäckig und mutwillig leugne" - er kann nur so tun, als gebe es keinen Gott, so überwältigend evident bleibt doch dessen Existenz.

Es gibt in dieser religiösen Welt nichts Inexistentes, was als solches benannt werden könnte. Darum aber wird auch das Existente geisterhaft, offen für Zauberei und Gespenstertum. Die Menschen, die sich abends um sie versammeln, suchen "in Betreff des Religiösen und Wunderbaren eine gewürztere Nahrung, als die öffentlichen Kulturzustände ihnen darboten". Aber nichts ist der Frau ferner als Mystizismus und Sektenwesen, sie braucht das Wunderbare in der Sinnenwelt. Die Magie der Welt liegt in einer zauberischen Handgreiflichkeit.

Frau Margret ist wohltätig, aber sie richtet ihr Tun nicht einfach auf Elende und Bedürftige, sondern auf Empfänger, in denen sie eine vielversprechende Tüchtigkeit erkennt, die es also verstehen, aus ihren Zuwendungen noch mehr zu machen. So vererbt sie ihren beträchtlichen, mit römischen Ziffern zusammengezählten Reichtum am Ende nicht ihrem spitzknochigen Mann oder sonst notleidender Verwandtschaft, sondern einem Jüngling, auf dessen Gewandtheit und Wohlergehen sie vertraut. Dieser nun, um allem Streit aus dem Weg zu gehen, verkauft alle ihre Schätze auf einen Schlag, sodass aus der vielgliedrigen Wunderwelt ein einziger dicker Geldsack wird, dessen Inhalt gewiss ganz profan in arabischen Zahlen beziffert wird.

Unvergesslich ist das. Und eigentlich bleibt diese Kindheitsepisode seltsam folgenlos für Heinrich Lees späteres Leben. Dagegen lenkt sie den Blick auf all die anderen Kuriositätenläden in den Romanen des 19. Jahrhunderts, bei Balzac und Dickens, auf die gruftigen Antiquariate, wo unter nutzlosem Kram plötzlich ein Kummerleder zu finden ist, für das man sich alles wünschen kann.

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