Süddeutsche Zeitung

"Der Gesang der Flusskrebse":Sumpfgeflüster

Die Bestseller-Verfilmung "Der Gesang der Flusskrebse" ist Southern Comfort fürs Kino - betörend süß.

Von Martina Knoben

Marsch ist nicht Sumpf, erfahren wir zu Beginn des Films, die Marsch sei ein Ort des Lichts. Die Kamera gleitet über glitzerndes Wasser, streift an Sandbänken und Schilf vorbei, die Bilder sind wunderschön, wie aus einer BBC-Naturdokumentation. Doch auch in der Marsch, hören wir, gebe es hier und da echten Sumpf. Die Natur hat ihre dunklen Seiten, flüstert uns dieses Intro zu, und dass diese Seiten irgendwie dazugehören. Wer "Den Gesang der Flusskrebse" kennt, die Buchvorlage des Films, weiß, dass darin Mord eine wichtige Rolle spielt.

"Where the Crawdads Sing", das moderne Märchen der amerikanischen Autorin und Zoologin Delia Owens, stand 2019 wochenlang auf der Bestsellerliste der New York Times und wurde in den Lockdown-Jahren endgültig zum Millionenseller, seine Verfilmung war nur eine Frage der Zeit. Die Produktion hat Reese Witherspoon übernommen, die das Buch liebt, wie sie sagt. Taylor Swift steuerte den Titelsong bei. Daisy Edgar-Jones, bekannt aus der Serie "Normal People" und der Horrorromanze "Fresh", spielt Kya, die als Sechsjährige ihre Familie verliert und sich allein in den Sumpfgebieten von North Carolina durchschlägt. "Marschmädchen" nennen die Bewohner des nahe gelegenen Küstenstädtchens sie abfällig. Kya gilt als unzivilisiert und ungebildet. Als das Kind einmal zur Schule geht, wird es so fies gemobbt, dass es wegläuft und nicht wiederkommt.

Wie es ist, so arm zu sein wie Kya, will der Film lieber nicht so genau wissen

Vielleicht ist es das warme Licht des Südens, das diese Unglücksbiografie so viel besser aussehen lässt als etwa die der jugendlichen Ree Dolly in Debra Graniks Film "Winters Knochen", die sich, ebenfalls ohne Unterstützung der Eltern, in den Ozarks in Missouri durchschlägt. Vermutlich aber wollen die Macher von "Der Gesang der Flusskrebse" manches einfach nicht so genau wissen: Welche - auch körperlichen - Folgen es für ein Kind hat, bitterarm zu sein und sich nur von dem zu ernähren, was das Sammeln von Krabben einbringt, die Kya an ein freundliches schwarzes Ladenbesitzer-Paar verkauft. Oder wie gefährlich es ist, jahrelang ohne Schuhe in der Marsch herumzulaufen, wo es vor Krabbel- und Kriechviechern, Ästen und Dornen nur so wimmelt.

Das Kind, mit dem in all der Zeit kaum jemand spricht, verblödet auch nicht und wird nicht zum seelischen Krüppel, sondern verwandelt sich von einem Schnitt auf den anderen in eine selbstbewusste, schöne, wenn auch etwas naive junge Frau. Kya kennt in "ihrer" Marsch jeden Stein, jeden Vogel, jede Muschel und jede Pflanze. Sie bewegt sich vollkommen furchtlos in der Natur.

Olivia Newmans Verfilmung erzählt Kyas Geschichte in Rückblenden, aus dem Gefängnis heraus. Chase Andrews (Harris Dickinson), ein stadtbekannter Frauenheld, wurde tot aufgefunden, das "Marschmädchen" soll die Mörderin sein. Er war Kyas Liebhaber, sie soll ihn getötet haben, nachdem sie herausfand, dass Andrews längst verlobt war, als er mit ihr schlief. Ein pensionierter Anwalt (David Strathairn) hat Mitleid mit der Außenseiterin und verteidigt sie, auch weil er den bornierten Kleinstädtern keinen fairen Prozess zutraut. "Um Sie zu verteidigen, muss ich Sie verstehen", sagt er zu ihr. Und so öffnet sich das verschlossen wie eine Auster wirkende "Marschmädchen" ausgerechnet diesem Stadtmenschen.

Kya macht ihr Ding, wie eine Mischung aus Mowgli und rehäugiger Pippi Langstrumpf

Die enge dunkle Zelle ist das Gegenteil der sich zum Meer hin öffnenden Marschlandschaft, in die Kya gehört. Aus dem Kerker heraus erzählt sie von ihrer Kindheit, was thematisch passt, weil eine solche Jugend immer auch ein Gefängnis ist. Sie erzählt vom prügelnden Alkoholiker-Vater und der Mutter, die vor ihm flieht; den Geschwistern, die ebenfalls das Weite suchen, bis schließlich auch der Vater verschwindet. Kya - als Kind eindringlich gespielt von Jojo Regina - bleibt allein zurück und zieht sich selbst auf.

Die Musik verleiht der Erzählung etwas südlich Süßes und Schwebendes. "Der Gesang der Flusskrebse" ist Southern Comfort fürs Kino. Dazu passen die schönen Naturbilder. Daisy Edgar-Jones spielt Kya als Halbwilde mit großen, oft staunenden braunen Augen, wehrhaft und zugleich scheu, als eine Mischung aus Mowgli und rehäugiger Pippi Langstrumpf.

Wie ein Tier, das seinem Lebenspartner begegnet, trifft Kya auf Tate (Taylor John Smith). Der junge Mann ist der Natur nahe genug, um sich in Kya zu verlieben. Er lehrt sie Lesen und Schreiben und sorgt dafür, dass sie sich den Menschen wieder näher fühlt als den Pflanzen und Tieren. Blätter tanzen um sie, als die beiden sich küssen.

Es ist immer schwer zu zu sagen, was ein Buch oder einen Film erfolgreich macht. Aber dass eine von Männern verratene und misshandelte junge Frau sich erfolgreich wehrt und trotz allem einfach weitermacht, dürfte vielen gefallen. Kya lässt sich leicht als Emanzipationsfigur lesen. Verführerisch ist auch, dass sie Natur und Kultur miteinander zu versöhnen scheint. Sie zeichnet die Pflanzen und Tiere der Marsch und kann sich so auch in der Welt der Menschen behaupten. "Delia Owens erzählt (...) davon, dass wir (...) den Geheimnissen und der Gewalt der Natur nichts entgegensetzen können", warb dennoch der Hanser-Verlag für das Buch, und auch der Film legitimiert Kyas mörderischen Überlebenskampf mit Naturgesetzen und Naturzwängen.

Das als feministische Glanzleistung zu verstehen, wäre ein Irrtum und würde sogar in eine Falle führen. Schon immer haben Männer Frauen gern als Naturgeschöpfe und sich selbst als Vertreter menschlicher Kultiviertheit gesehen. Aber wer will das alles schon so genau wissen, wenn Freiheit und Reinheit, Erfolg und Liebesglück so gut zusammengehen.

Where the Crawdads Sing, USA 2022. Regie: Olivia Newman. Buch: Lucy Alibar. Kamera: Polly Morgan. Schnitt: Alan Edward Bell. Musik: Mychael Danna. Mit: Daisy Edgar-Jones, Jojo Regina, Taylor John Smith, Harris Dickinson, David Strathairn, Michael Hyatt, Sterling Macer Jr. Verleih: Sony, 126 Min.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5641347
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.