Der Fall Natascha Kampusch am Theater:Guck mal, wer da spricht!

Sensationsgier im Konjunktiv: Am Schauspielhaus Düsseldorf wird der Fall Natascha Kampusch thematisiert.

Christine Dössel

Kathrin Röggla ist die Reporterin unter den deutschsprachigen Dramatikern, eine Autorin mit stark journalistischem Ansatz - all ihre Stücke sind bestens recherchiert, beruhen auf Interviews, dokumentarischen Verfahren, auf akribischer Fakten- und Zeitungslektüre. Man könnte die 1971 in Salzburg geborene Österreicherin mit Wohnsitz in Berlin auch eine Katastrophendramatikerin nennen. Ihr Einsatzgebiet sind die Miseren und Betriebsunfälle dieser Welt -gesellschaftliche, ökologische, ökonomische Katastrophen -, für deren Medialisierung, Angstmechanismen und bewusstseinsverändernde Wirkung sie sich interessiert.

Der Fall Natascha Kampusch am Theater: Anna Kubin (rechts unten) ist im Stimmengeraune um den Fall Natascha Kampusch der "professionelle Fan". Die anderen selbst ernannten Experten sind live zugeschaltet.

Anna Kubin (rechts unten) ist im Stimmengeraune um den Fall Natascha Kampusch der "professionelle Fan". Die anderen selbst ernannten Experten sind live zugeschaltet.

(Foto: Foto: S. Hoppe)

In "Fake Reports" (2002), ihrer ersten Arbeit fürs Theater, thematisierte Röggla den 11. September, den sie als Stipendiatin in New York selbst miterlebt hatte. In "Wir schlafen nicht" (2004) ließ sie sogenannte Entscheider aus der Consulting- und IT-Branche zu Wort kommen, um über Effizienz, Leistungs- und Anpassungsdruck in ihrer schönen neuen Arbeitswelt zu berichten.

In "Junk Space" (2004) ging es um Flugangst und andere Phobien, in "Draußen tobt die Dunkelziffer" (2005) um Menschen in der Schuldenfalle. In "Worst Case", uraufgeführt Ende letzten Jahres in Freiburg und mit brachialer TV- und Travestie-Komik nachgespielt am Theater Dortmund, breitet Kathrin Röggla gleich ein ganzes Tableau medial verbreiteter Schreckensszenarien aus, ein großes, globales Katastrophenangstrauschen: "mal sehen, ob die wälder wieder brennen, mal sehen, ob eine hitze uns entgegenschlägt. (...) mal sehen, ob sich wieder was tut." Und in ihrem jüngsten Stück "Die Beteiligten", einem Auftragswerk für das Schauspielhaus Düsseldorf, untersucht sie die "Gier unserer lieben Mediengesellschaft nach dem spektakulären Opfer" an einem ganz speziellen Fall: dem Fall Natascha Kampusch.

Das Besondere an all diesen Stücken, in denen jedes Wort kleingeschrieben ist wie in einem reaktionsschnellen Online-Chat, ist Rögglas Sprache: ihre Turbo-Technik des O-Ton-Samplings und der Stimmen-Collage, ihr ausgeklügeltes Zitierverfahren bei besonderer Bevorzugung des Konjunktivs. Rögglas Texte sind zumeist in der indirekten Rede verfasst, in der distanzierten, berichtenden Erzählform der reported speech. Ihre Figuren reden in der dritten Person über sich, zitieren Gehörtes, Gelesenes, Aufgeschnapptes oder erscheinen im allgemeinen Meinungsgeraune selbst bloß als Zitate. Wer da redet oder geredet wird, ist nicht immer klar auszumachen - das "Ich" jedenfalls, diese stärkste Behauptungsform des Theaters, hat bei Röggla einen schweren Stand.

Ohne Namen

"was heiße hier, man erinnere sich nicht? er habe das noch gut vor augen: dies foto mit dem mädchen im kleid im nassen gras und der decke darüber. ein jeder hier werde sich daran erinnern, d. h. an den august 2006 erinnern, denn schließlich waren alle dabei. nach acht jahren höhlendasein diese befreiung! na klar, erinnere man sich ...", so beginnt Kathrin Rögglas Stück "Die Beteiligten", in dem schon nach wenigen Sätzen klar ist, dass es hier um den Fall der im Alter von zehn Jahren entführten Österreicherin Natascha Kampusch geht, auch wenn deren Name kein einziges Mal genannt wird.

Aus dem "Ich", das in dem Stück zu Wort kommt - in Sätzen wie: "ich liefe gefahr, eine prinzessinnendiktatur zu errichten, eine prinzessinnendiktatur, die ich dann nicht mehr so leicht loswerden könne, die mir über den kopf wachse" -, scheint zwar das Opfer selbst zu sprechen; dieses "Ich" ist aber nur eine Projektion, in der sich die Kommentare und Wertungen der jeweils anderen spiegeln, der Bescheidwisser, der Mitmischer, der Sensationsgeier, der "Beteiligten".

Tatsächlich sind es sechs Außenstehende, die hier sprechen und sich in ihrer konjunktivistischen Rede des Opfer- "Ichs" bemächtigen, so in dem Stil: "sie wolle ja nur sagen, sie sei auf meiner seite". In der Düsseldorfer Uraufführung tragen diese Figuren keine Namen, nur Titulierungen: die "Pseudopsychologin" (Claudia Hübbecker als nuanciert penetrante Fachsimplerin), der Möchtegernjournalist" (in seiner Sensationsgier latent aggressiv: Wolfram Rupperti), die "Irgendwie-Nachbarin" ( Susanne Tremper als naiv-geschwätzige Klatschbase), der "Quasifreund" (ein Scheinheiliger von der Wohltäterfront: Pierre Siegenthaler), der "professionelle Fan" (Anna Kubin als platinblondsüße Online-Maus aus der Blogosphäre) und das "gefallene Nachwuchstalent" (berufscool: Denis Geyersbach).

Im Stimmenkonzert dieser nicht direkt, sondern nur über die Medien an dem Fall "Beteiligten", die sich zu selbsternannten Experten aufschwingen, erklingt nicht nur die Resonanz, die der Entführungsfall Kampusch in der Öffentlichkeit hervorgerufen hat - es blitzt in dem indirekten Redefluss auch die (entlarvende) Perspektive des vermeintlich referierenden "Opfers" auf seine es vereinnahmende Umwelt auf.

Das ist raffiniert konstruiert, und Stephan Rottkamp hat in seiner eindrucksvollen Inszenierung auch eine starke, adäquate Umsetzungsform dafür gefunden. Sechs schwarze Kästen stehen auf der Bühne des Kleinen Hauses, in denen jeweils etwa dreißig Zuschauer Platz finden. In jeder dieser engen Boxen sitzt einer der sechs Schauspieler, umrahmt von fünf Monitoren, auf denen die Gesichter der anderen Schauspieler aus den anderen fünf Boxen zu sehen - und, wenn diese sprechen, auch zu hören - sind.

Der Eindruck, den diese kongeniale Raum- und Videoinstallation von Robert Schweer erweckt: Wir sind live dabei und doch bloß Zugeschaltete. Perfide! Indem der Zuschauer die Gaffer-Position des TV-Konsumenten einnimmt und Schauspielern zusieht, wie sie in Mimik und Gestik höchst wirklich und dringlich ausdrücken, was sie sprachlich nur in der Möglichkeitsform referieren, wird die scheinbare Live-Situation doppelt und dreifach gebrochen, wird jeder einzelne als "Beteiligter" vorgeführt und zugleich auf erhellende Distanz gehalten.

Einmal müssen die Zuschauer - wie eine sich drängelnde Herde - die Boxen wechseln, ehe schließlich die Seitenwände hochfahren und den Blick auf die Gesamtszenerie freigeben, in der sich nun das Publikum gegenübersitzt. Jetzt kippt die Stimmung der "Beteiligten". Enttäuschungen, Aggressionen, Aporien kommen auf, denn das Opfer verhält sich nicht opfergemäß, es ist selbstbewusst, verweigert sich, führt ein selbstbestimmtes Leben, "man wisse ja gar nicht mehr, wen man vor sich habe". Das "Vollopfer" mutiert in der öffentlichen Wahrnehmung zum undankbaren Ego-Monster. Kaum ebbt das Interesse an dem Fall ab, hebt sich der Eiserne Vorhang und gibt den Blick in den leeren Zuschauerraum frei: Vorhang auf für die nächste Sensation! Applaus.

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