Süddeutsche Zeitung

Der Fall Chris Dercon:Überforderter Intendant trifft wankelmütige Politiker

  • Chris Dercon beendet mit sofortiger Wirkung seine Intendanz an der Berliner Volksbühne - nach nur sieben Monaten.
  • Monatelange Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und RBB zeichnen das Bild einer von Anfang an überforderten Intendanz.
  • Vor allem die Kosten für das Gelände auf dem stillgelegten Flughafen Tempelhof wurden nicht kalkuliert.

Von John Goetz und Peter Laudenbach

Chris Dercon gibt auf. Er legt, mitten in der Spielzeit, mit sofortiger Wirkung, die Intendanz der Berliner Volksbühne nieder. Kultursenator Klaus Lederer von den Linken und der nur sieben Monate amtierende Dercon, so hat die Berliner Kulturverwaltung am Freitag erklärt, haben sich einvernehmlich darauf verständigt, die Intendanz mit sofortiger Wirkung zu beenden. Es ist ein abrupter Abgang, aber, wie man sehen wird, ein wenig überraschender. Er ist die Folge hochfliegender Träumereien, unklarer Finanzierungen, eines oft unfair, ja, unflätig geführten Streits darüber, was ein Theater zu sein hat. Und er hinterlässt ein Haus vor dem finanziellen Kollaps.

Dass die Budget-Situation der Volksbühne niederschmetternd ist, war klar, seit Dercon und sein Team am Montag in der Berliner Kulturverwaltung Bericht über die Budget-Situation des Theaters erstatteten. Mit den noch zur Verfügung stehenden Mitteln kann der Spielbetrieb nur notdürftig aufrechterhalten werden. Bis Jahresende, also in den kommenden knapp acht Monaten können keine Neuproduktionen für die große Bühne finanziert werden. Zahlreiche Vorstellungen in dem Haus mit mehr als 800 Plätzen finden, wie interne Unterlagen der Volksbühne zeigen, nur 200 oder weniger Zuschauer. Die Volksbühne, unter Dercons Vorgänger Frank Castorf über Jahrzehnte eine Burg im deutschen Theaterbetrieb und heute das Haus mit den zweithöchsten Subventionen aller Berliner Schauspielbühnen, ist nicht mehr handlungsfähig.

Dercon hat am Donnerstag die Konsequenzen gezogen und ging. Am Freitag um elf Uhr hat Lederer die Belegschaft auf einer Personalversammlung informiert. Kommissarischer Intendant wird mit sofortiger Wirkung Klaus Dörr, bisher Künstlerischer Betriebsdirektor und stellvertretender Intendant am Staatsschauspiel Stuttgart und eigentlich von kommender Spielzeit an Geschäftsführer der Volksbühne.

Zwei Monate lang haben Journalisten von Süddeutscher Zeitung, NDR und RBB die Vorgeschichte des Desasters recherchiert, konnten Tausende Seiten Akten und den Mailverkehr zwischen Kulturverwaltung, Regierendem Bürgermeister und Dercons Team einsehen. Dies und lange Gespräche mit allen Beteiligten erlauben es, das Gesamtbild einer von Anfang an überforderten Intendanz zu zeichnen - und einer Berliner Kulturpolitik, die mit dem Wort wankelmütig noch vorsichtig beschrieben ist.

"Quo vadis Herr Müller? Wo gehen Sie hin? Was wollen Sie?"

Am Donnerstag, als Dercon um 17 Uhr eigentlich ein Fernsehinterview geben sollte, verließ er fluchtartig das Theater. Am Vortag hatte er den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) in einem Interview mit dem Rechercheteam angegriffen. Müller, zur Zeit der Berufung Dercons auch Kultursenator, ist einer der Väter der heutigen, verfahrenen Situation. Er hatte im Januar 2015 gemeinsam mit Renner und Dercon davon geträumt, in einem Hangar des stillgelegten Berliner Flughafens Tempelhof eine riesige, interdisziplinäre Performance- und Theaterspielstätte unter der "Dachmarke" Volksbühne zu errichten. Sie sollte der Kern der "neuen_volksbühnen" werden.

Nun ist Dercons Enttäuschung groß, denn nicht nur Tempelhof ist gescheitert, auch Müller schweige: "Ich habe mich viermal mit Müller getroffen und nie wieder etwas von ihm gehört." Und: "Das ist hier ein Appell, und das sage ich auch gern: Wo ist der Herr Regierende Bürgermeister Michael Müller? Quo vadis, Herr Müller? Wo gehen Sie hin? Was wollen Sie? Übernehmen Sie Verantwortung? Eigentlich sollte man das Stück nennen, ,Von einem, der auszog, weil er die Miete nicht zahlen konnte' — weil das unsere gesamte Geschichte ist. Unser Problem ist, dass wir die Miete in Tempelhof nicht bezahlen können. Herr Bürgermeister Michael Müller kann die Miete auch nicht zahlen."

Auf Gesprächsanfragen hat Michael Müller - ebenso wie Lederer - nicht reagiert.

Dercon lag nicht ganz falsch. Die Unterlagen zeigen, wie blauäugig die Politik und Chris Dercon die Bespielung Tempelhofs planten. Im Januar 2015 mailte Dercons Programmdirektorin Marietta Piekenbrock einen ersten Finanzentwurf an die Kulturverwaltung, darin rechnete Dercons Team mit Sponsoringeinnahmen von 1,25 Millionen Euro und Gastspieleinnahmen von 750 000 Euro - beides Kalkulationen, die Gabriele Gornowicz, eine erfahrene Theater-Managerin und bis 2014 Geschäftsführerin der Volksbühne, für "komplett unrealistisch" hält. Weder die Sponsoren- noch die Gastspieleinnahmen konnten auch nur in Ansätzen erreicht werden.

Und der Ensemble-Betrieb? Der stehe nicht "im Vordergrund", hieß es

Zweieinhalb Jahre später, am 21. August 2017, schreibt Barbara Esser, eine Mitarbeiterin der Kulturverwaltung, in einer Notiz für den Regierenden Bürgermeister zum "Wirtschaftsplan 2018/2019" der Volksbühne: "Die Bespielung von Tempelhof wird in 2018 und 2019 nicht abgebildet. Eine Finanzierung durch Drittmittel, wie Dercon im Kulturausschuss als Option genannt hat, ist auch nicht ablesbar, da nur 125.000 € Spenden / Sponsoring ausgewiesen." Ein Mitarbeiter der Kulturverwaltung hält in einem internen Vermerk für Staatssekretär Renner fest, dass in Dercons Kalkulation die Mietkosten für Tempelhof fehlen. Das schien keine Rolle gespielt zu haben.

Die Kosten des millionenschweren Umbaus eines Hangars zur Bühne wurden weder von Dercon noch von der Kulturverwaltung kalkuliert. Weder im Etat der Kulturverwaltung noch an anderer Stelle im Landeshaushalt werden dafür Mittel bereitgestellt. Die Tempelhof-Konstruktion ist von Anfang an ein Luftschloss.

Dabei ist der Plan verlockend: die Etablierung eines weltweit ausstrahlenden Symbols für die Kulturmetropole Berlin. "Es entsteht ein aussagekräftiges Identitätszeichen, mit dem sich die Stadt Berlin als Standort für Kunst und international neu positioniert", heißt es in einem internen Konzeptpapier. Internationale Künstler sollten in Tempelhof Werke zwischen Bildender Kunst, Theater, Installation und Tanz produzieren und aufführen. Geplant wird in großen Dimensionen: Am 29. November 2014 schreibt Dercon in einer E-Mail, dass jährlich 250 000 Besucher nach Tempelhof kommen könnten. Im schönsten Kuratoren-Slang wird ein ehrgeiziger Anspruch formuliert: "Die neuen volksbühnen_berlin sind die erste kulturelle Plattform in Deutschland, die unter einer Dachmarke Theater, Tanz, Konzert, Kino, Bildende Kunst, Design, Architektur, Kulturen des Digitalen und Education versammelt". Und weiter: "Der Zusammenschluss der neuen volksbühnen_berlin schafft eine programmatische Achse zwischen den zukünftigen Strategieräumen Mitte und Tempelhofer Feld / Neukölln." Am Ende reichte es für eine Kurzbespielung und eine Zuschauertribüne, die der Architekt Francis Kéré entworfen hatte.

So großzügig Dercon mit fiktiven Einnahmen kalkuliert, so üppig gibt er Geld aus. Allein für ein einmaliges Event auf dem Freigelände des Flughafens Tempelhof im September 2017, die von Boris Charmatz kuratierte Gruppen-Inszenierung "A dancers day", ist ein Budget von 455 000 Euro eingeplant - eine Dimension, die alles an großen Stadt- und Staatstheatern Übliche sprengt. Doch selbst wenn Dercon maßvoller gewesen wäre, ja, selbst wenn seine wenigen Eigenproduktionen das Dreifache an Zuschauern gehabt hätten, wäre er in Schwierigkeiten geraten. Der Versuch, in der Struktur eines Stadttheaters mit personalintensiven Gewerken im Wesentlichen einen teuren Gastspielbetrieb zu errichten, musste das Budget des Hauses überfordern. Wer ein wenig von Theaterbetriebswirtschaft versteht, konnte sich nur wundern über die fröhliche Annahme, das werde schon irgendwie gut gehen.

Erbitterter als um die Finanzen aber wurde von Anfang an über die Organisation der Volksbühne gestritten. Dercons Programmdirektorin Marietta Piekenbrock ist eine erfahrene und renommierte Festival-Dramaturgin, sie ahnte, wie riskant das Umstellen eines Repertoire- und Ensemble-Betriebs auf eine Plattform- und Gastspielstruktur werden dürfte. In einer Mail an die Kulturverwaltung schrieb sie: "Ich habe explizit Tim Renner gefragt, ob wir den Ensemble-Betrieb behalten sollen, ob es ihm wichtig sei. Tim Renner hat ganz klar geantwortet, das stehe für ihn nicht im Vordergrund." In einem internen Konzeptpapier wird die Transformation der Volksbühne vom "klassischen Repertoire-Betrieb" in eine "Projektgesellschaft" skizziert. Am 20. Januar 2015 schreibt Piekenbrock an die Kulturverwaltung, dieser Plan berühre "eine der empfindlichsten, delikatesten Kultur-Diskussionen zur Zukunft der Stadttheater". Sie hatte recht. Die Frage, ob die Volksbühne ein "klassischer Repertoirebetrieb" bleibe, wurde zu einem der zentralen Konfliktpunkte der Debatte über Dercons Intendanz. Eine von 40 000 Unterzeichnern getragene Petition forderte, genau diese Umformatierung zu verhindern.

Piekenbrock berichtet im Gespräch, dass sie in ihrer Mail die Kulturverwaltung, also den damaligen Staatssekretär Renner und den damaligen Kultursenator Müller, "warnend darauf aufmerksam gemacht" habe, "dass die Erweiterung des klassischen Repertoire-Betriebs in ein international ausgerichtetes Mehrspartenhaus eine vermutlich nervöse Diskussion" auslösen würde: "Ich wollte eine informelle Aktennotiz schaffen, um sicherzustellen, dass sich alle Beteiligten nicht nur über die Idee, sondern auch über Tragweite, Konfliktpotenzial und über notwendige Zeit und Vertrauen im Klaren sind. Tim Renner wollte unter Einbeziehung des Stammhauses Volksbühne einen Zusammenschluss von Bühnen und Spielstätten auf den Weg bringen, bei dem Theater, Museum, Kino und Digitales sich gegenseitig beflügeln. Das war der Auftrag." Dercon und Piekenbrock haben getan, was die Politik von ihnen erwartete. Dafür hat die Politik sie im Stich gelassen.

Während die Tempelhof-Pläne nicht vom Fleck kommen, denken Dercon und Piekenbrock über die Bespielung der Volksbühne nach. Sie wollen den Regisseur René Pollesch zum Leiter der Schauspielsparte machen. Das ist gewagt. Pollesch ist dem Haus eng verbunden und verdankt seine Karriere seinen Inszenierungen an Frank Castorfs Volksbühne. Castorf war ein Vierteljahrhundert Intendant des Hauses, mit Dercons Antritt aber würde diese Ära Geschichte sein.

Auf Bitten Renners ist Pollesch immerhin bereit, sich mit Dercon in der Volksbühne zu verabreden. "Ich war so enthusiastisch, den großen Künstler Pollesch zu treffen, das war das erste Mal, dass ich in der Kantine war", erinnert sich Dercon. Pollesch habe gefragt, was er trinken wolle, dann aber habe Dercon dem Regisseur die Frage gestellt, ob er an der neuen Volksbühne das Schauspiel leiten wolle: "Er antwortete, dass er keinen Kurator braucht. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass ich das überhaupt nicht vorhabe, und alle Künstler, die mir wichtig sind, nichts mit Kuratoren anfangen können. Ich habe Tim und Marietta hinterher gesagt, es sei ein gutes Treffen gewesen", so Dercon.

Viele Vorstellungen sind kaum besucht: "Hier ist Totentanz."

Aus Sicht Polleschs liest sich die Begegnung anders: als Desaster. "Ich traf ihn im Foyer und ging mit ihm in die Kantine", erzählt er. "Wir saßen in der Ecke unter dem Fernseher. Dercon kam mit seiner Freundin, einer Schauspielerin. Dercon sagte, dass er meine Arbeit liebt, aber es war schnell klar, dass er sie nicht kannte. Seine Freundin kannte einige Stücktitel, aber sie brachte alles durcheinander." Er habe den Eindruck gewonnen, dass Dercon "nicht einmal meinen Wikipedia-Eintrag gelesen hatte". Dercons Plan sei es gewesen, dass es verschiedene Sparten geben sollte: Tanz, Film, Theater, und jede Sparte sollte einen eigenen Leiter bekommen, einen älteren Künstler, der als Mentor mit einem jüngeren Künstler zusammenarbeiten sollte. Er, Pollesch, sollte mit Susanne Kennedy zusammenarbeiten: "Und wir alle sollten unter seiner Generalintendanz arbeiten. Mir war klar, dass in dieser Konstruktion jeder Erfolg sein Erfolg wäre und jeder Misserfolg unser Misserfolg. Das konnte nie funktionieren." Nach dem Gespräch gibt es für Pollesch keinen Zweifel daran, dass er mit Dercon nicht arbeiten will.

Die wichtigsten Pfeiler von Dercons Konzept - Tempelhof und die Volksbühne mit Pollesch - , waren damit schon vor Beginn seiner Intendanz im September vergangenen Jahres weggebrochen. In der Folge kaufte er orientierungslos Gastspiele ein. Weder Publikum noch Kritik ließen sich von dem Programm (und den vielen Schließtagen) überzeugen. Künstler und Intellektuelle wie Kate Tempest oder Judith Butler sagen vereinbarte Auftritte ab. Der Filmregisseur Romuald Karmakar, zu Beginn der Spielzeit als Hausregisseur angekündigt, hat sich offenkundig von dem Projekt zurückgezogen. Die Angriffe gegen Dercon hatten zwischenzeitlich Mobbing-Charakter angenommen. Aber noch immer gab er nicht auf. In ihrer Not, das Haus irgendwie zu bespielen, wollte die Intendanz das Laien-Kinder- und Jugendtheater P14 auf die große Bühne bringen. "Hier ist Totentanz", sagt der Bühnentechniker Ed Dunckel.

Und nun? Nun muss der kommissarische Intendant Klaus Dörr einen provisorischen Spielplan organisieren. Es gibt Spekulationen, dass Dörr seinen Stuttgarter Kollegen Armin Petras holen könnte, aber Petras ist vertraglich gebunden, er hat sich als Hausregisseur ans Theater Bremen engagieren lassen. Auch die Gerüchte um die Chancen eines anderen alten Volksbühnen-Bekannten, des einstigen Chefdramaturgen Castorfs und heutigen Intendanten der Münchner Kammerspiele, Matthias Lilienthal, der in München ähnlich angefeindet wurde und aufhört, dürfte sich als heiße Luft erweisen. Dafür war Lilienthal zu tief in die Berufung und Beratung Dercons verwickelt.

Nicht ohne Schadenfreude melden sich nun jene zu Wort, die für Dercon nie etwas übrig hatten, der Über-Regisseur Claus Peymann beispielsweise, Ex-Intendant des Berliner Ensembles. "Die erwartete Katastrophe ist also eingetreten", sagte er Agenturen. Immerhin sieht er die Schuld nicht bei Dercon, sondern bei der Berliner Politik. Thomas Ostermeier, der künstlerische Leiter der Berliner Schaubühne, sieht die Volksbühne "ausgeblutet auf allen Ebenen und kaputt".

Müller, der für Gespräche über die Volksbühne nicht zu erreichen war, erklärte nun, Dercons Rücktritt sei bedauerlich, aber nachvollziehbar. Auf die Volksbühne dürften schwierige Zeiten zukommen. Aber schwierige Zeiten sind sie an diesem Theater gewöhnt.

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Quelle:
SZ vom 14.04.2018/luch
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