Wenn in einem Dokumentarfilm eine so schillernde, charismatische und auch zwielichtige Figur wie der russische Ex-Oligarch, Putin-Gegner und mittlerweile Langzeithäftling Michail Chodorkowskij im Mittelpunkt steht, ist das im Grunde schon die halbe Miete. Die Lebensgeschichte dieses Mannes, der einmal einer der reichsten der Welt war und nun im Straflager sitzt, der - zumindest im Westen - als Symbolgestalt für Putins Machtpolitik gilt und für die Parteilichkeit der russischen Justiz, ist wie gemacht fürs Kino. Bleibt nur das Problem, einen solchen Stoff auch in den Griff zu kriegen.
Mehrere Jahre lang hat der Frankfurter Regisseur Cyril Tuschi, der russische Wurzeln hat und mit dem Spielfilm "Sommerhundesöhne" (2004) debütierte, Familienangehörige, Freunde, ehemalige Geschäftspartner und Weggefährten Chodorkowskijs hinterher recherchiert, zum Teil bis ins ferne Exil, mit einem sicheren Gespür für die Bedeutung und das Exemplarische dieses Falles.
In einem letzten Coup des Films ist sogar ein Interview des Regisseurs mit dem inhaftierten Chodorkowskij im Glaskasten während des zweiten Prozesses in Moskau zu sehen. Den ganzen Film lang hatte man auf diesen Moment nicht wirklich gewartet, zu rechnen war mit einem Interview nicht - es aber doch herbeigesehnt, weil im Mittelpunkt des Films eine so auffällige Leerstelle war. (Als Ersatz für den realen Mann hatte Tuschi zuvor eine Zeichentrickversion Chodorkowskijs auftreten lassen.) Und dann dieses überraschend gewährte Interview im Gerichtssaal, das erste richtige Interview mit dem Häftling seit sieben Jahren, geführt in einer dramatisch aufgeladenen Situation, die auch optisch einiges hergibt. Und was fragt Tuschi da? - Er fragt, ob Chodorkowskij, der im Glaskäfig milde lächelt wie ein Weiser oder Heiliger, im Gefängnis meditiere.
Natürlich ist es unfair, einem Regisseur aus einer einzigen bizarren Frage einen Strick zu drehen. Aber schon vorher im Film hat man immer wieder den Eindruck, dass Tuschi aus großer Distanz und eher naiv an sein Thema herangeht.
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So besucht er beispielsweise Chodorkowskijs Mutter und lässt sie im Film erzählen, dass das Haus früher voller Leben war, jetzt aber niemand mehr komme. Inwiefern das der Wahrheitsfindung im "Fall Chodorkowki" dient, bleibt Tuschis Geheimnis. Dabei inszeniert sich der Regisseur jedoch als rücksichtsloser Aufklärer.
Kurz vor der diesjährigen Berlinale wurden mehrere Computer aus Tuschis Produktionsbüro gestohlen, darunter einer, auf dem die Endfassung des Films gespeichert war. Ein Zufall? Tuschi wäre dumm, wenn er die Möglichkeit eines Geheimdienstauftrages nicht wenigstens in Betracht gezogen hätte. Eine bessere Werbung für seinen Film konnte es jedenfalls nicht geben; während der Berlinale brach ein regelrechter Hype darum aus. Und als dann das Züricher Filmfestival und das Ludwigshafener "Festival des deutschen Films" den "Fall Chodorkowski" nicht spielten, vermutete Tuschi schon mal vorauseilenden Gehorsam gegenüber russischen Sponsoren. Beweisen lässt sich das natürlich nicht.
Interessant ist Tuschis Film natürlich trotzdem, vor allem dort, wo er die anarchisch anmutenden Zustände in der Zeit der Perestroika rekapituliert, als der ehemalige Chemiestudent und Komsomol-Aktivist Chodorkowskij 1989 wie aus dem Nichts eine der ersten Privatbanken der UdSSR gründen konnte.
Eine beeindruckende Sammlung von Zeugen, auch zur Gründung von Yukos oder zu Putins Machtpolitik, hat der Film zu bieten - die Tuschi dann allerdings überraschend kritiklos befragt, ihnen viel Raum zur Selbstdarstellung gibt. Natürlich ist auch das immer wieder sehr aufschlussreich.
Am Ende hat man die meisten wirtschaftlichen und politischen Schachzüge, die der Film darlegt, teilweise aber auch nur andeutet, nicht wirklich verstanden, vor allem Chodorkowskij bleibt ein Rätsel. Sehr deutlich aber wird, dass zwischen der Wahrnehmung im Westen, wo Chodorkowskij quasi als politischer Häftling und Putin-Opfer gilt, und der in Russland, wo man ihn für einen eher gewöhnlichen Steuerhinterzieher hält, Welten liegen.
DER FALL CHODORKOWSKI, D 2011 - Regie, Buch: Cyril Tuschi. Kamera: Peter Dörfler, Franz Koch, Eugen Schlegel, C. Tuschi . Schnitt: Salome Machaidze, C. Tuschi. Farbfilm Verleih, 111 Minuten.