Süddeutsche Zeitung

"Der eingebildete Kranke":Ein paar Pillen fürs Publikum

Claudia Bauer inszeniert am Münchner Residenztheater eine weitere Molière-Verwurstung von Peter Licht.

Von Egbert Tholl

Die beiden sind ein Theatererfolgsduo: Peter Licht, der scheue Musiker vom "Sonnendeck", der Poet und Stückeschreiber, und die Regisseurin Claudia Bauer. 2016 inszenierte Bauer in Basel "Der Menschen Feind" und reiste damit zur Theaterbiennale in Venedig, 2018 erarbeitete sie ebendort "Tartuffe oder das Schwein der Weisen", was in diesem Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen war. Für beide Aufführungen hatte Peter Licht Stücke von Molière bearbeitet, wie überhaupt die Basler Dramaturgie unter dem Intendanten Andreas Beck Modernisierungen, Überschreibungen von Klassikern vorsah. Am Münchner Residenztheater setzt Beck diese Linie fort - Licht und Bauer nahmen sich wieder Molière vor. Das Ergebnis heißt "Der eingebildete Kranke oder das Klistier der reinen Vernunft". Der Titel stimmt. Die Aufführung hat die Wirkung eines Einlaufs.

Licht, der auch - fürs Maxim-Gorki-Theater Berlin - Molières "Der Geizige" bearbeitet hat, sagte einmal, er schätze Molière als frühe Form der Moderne, er schätze das Aufeinanderknallen der Figuren, das "niederschwellige Aufeinanderrumgeorgle". Gleichzeitig gebe es diesen Resonanzraum der Vergangenheit, den man ganz offenbar beherzt verlassen müsse. Und doch hallt da einiges nach, gerade wenn Bauer sich der Texte annimmt und Vanessa Rust alle Protagonisten in überkandidelte Rokokogymnastikkostüme packt, mit dicken Haarknubbeln auf dem Kopf, greller Schminke im Gesicht und viel Polsterung am Gesäß. Derart zugerichtet dürfen alle Darstellenden vor allem eines: Quatsch machen.

Nun ist es allerdings so, dass der Text von Peter Licht gar nicht durchgängig auf forcierten Blödsinn ausgerichtet ist. Argan, der eingebildete Kranke, ist bei ihm ein hypochondrischer Superstar, den alle Argi nennen, wie überhaupt alle miteinander recht kindisch umgehen, also aufeinanderknallen. Aber das ist nur die Quasseloberfläche, im Kern hat Argans Angst vor dem eigenen Zerfall eine große Schwermut. Es ist die Schwermut einer Gesellschaft, die denen, die nicht funktionieren, nicht mehr zuhören will. Und diejenigen, deren Funktionieren gestört ist oder die auch nur Angst vor einer Funktionsstörung haben, die schaffen sich verzweifelt Gehör. Deshalb tritt Florian von Manteuffel gewandet wie ein lächerlicher Sonnenkönig auf und redet erst einmal sehr viel, über Krankenkassen, Rechnungen, Chiropraktiker, Osteopathen und sonstige Ärzte. Das macht er hochvirtuos, und es ist als Sprachabsonderungsvorgang imposant.

Alle um ihn herum muss man sich als flatternden Schwarm vorstellen. Licht hat das Personal reduziert, insgesamt gibt es acht Menschen auf der Bühne und zwei Musiker auf einem Podestchen, die einen durchlaufenden Soundtrack basteln, der irgendwie an die Musik des Trickfilms "Herr Rossi sucht das Glück" erinnert, aber andere Zitate verwendet, wobei die Assoziation mit dem Herrn Rossi vielleicht gar nicht falsch ist, weil Argan ja auch ein Glück sucht, das er nie findet.

Der Schwarm also betüddelt Argan, gerade so, wie man sich eine hysterische Entourage eines hysterischen Superstars vorstellen mag. Manche wie Myriam Schröder als Toinette oder Pia Händler als Argans Frau Béline haben noch einen Zug ins Praktische, aber letztlich bleiben alle austauschbar, so wollen es ja auch die Kostüme. Nur Christoph Franken hat als Arzt einen ganz eigenen, selbst an einen Rockstar gemahnenden Auftritt und verteilt "Ibuprofenchen" ans Publikum.

Claudia Bauer und ihr beherztes Darstellungsteam brauchen für 130 Seiten Text zwei Stunden und 15 Minuten. Da kann man sich vorstellen, wie die Wortkaskaden aufs Publikum niederrauschen. Die Worte zu hören ist dabei das eine, sie zu verstehen das andere. Und für dieses andere geht einem bald die Lust verloren, was nicht nur an Bauer liegt, sondern auch an der Redundanz der Worte und daran, dass Licht gute Ideen mit sehr viel Schaum umgibt, wobei die Molièr'sche Grundstruktur gar nicht mal verloren geht, am dramaturgischen Grundgerüst nur einfach sehr viel wabbliges Fleisch hängt. Die Entwicklung des Stücks folgt eher dem Prinzip eines unveränderlichen Zustands, die Erbschleichereien in Argans Umgebung beispielsweise finden Erwähnung, ohne dass auch nur die allergeringste Folge daraus erwüchse.

So fragt man sich, wie der Text wirkte, hätte ihn nicht Claudia Bauer inszeniert. Dann würden vielleicht nicht acht Menschen wie die Nacktmulle in ihrem Bau auf den vier Stockwerken einer von innen nach außen gestülpten Wohntrommel (Bühne: Andreas Auerbach) herumwuseln. Dann würden vielleicht auch nicht alle besinnungslos aufeinander einreden, sondern einander zuhören. Natürlich, die Hysterie ist Metapher. Aber hohl. Gäbe es nicht einen gnadenlos konsequenten Regisseur wie Herbert Fritsch, man könnte Bauers Licht-Dampfkochtopf als genuine Erfindung begreifen. Aber es gibt ihn. Deshalb wirkt diese Inszenierung erschreckend epigonal. Aber nicht einmal dagegen wäre etwas einzuwenden, hätte sie Kraft. Hat sie aber nicht. Selbst um sie witzig zu finden, muss man schon guten Mutes sein.

Die Idee zum Stücktitel beschreibt Licht im Programmheft so, dass Klistier und Kritik (der reinen Vernunft, inspiriert von Kant) gemeinsam hätten, "man steckt wo was rein und es kommt wo was raus". Nur wie viel dabei herauskommt, das sagt er nicht. In der Aufführung ist es dann wenigstens der Auftritt des fliegenden Superstars Argan, der auf einem Trampolin endet. Mithin: ein Absturz.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4733462
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.12.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.