Der Ehrenpreis:Wolf mit Schafspelz und Melone

Die Kostümbildnerin Milena Canonero arbeitete mit Stanley Kubrick, Sofia Coppola und Wes Anderson. Auf der Berlinale wird sie mit einem Goldenen Bären für ihr Lebenswerk geehrt.

Von David Steinitz

Wie eine Phallusrüstung sehen die riesigen Suspensorien aus, welche die Schläger in "A Clockwork Orange" zwischen den Beinen tragen, um ihre Weichteile zu schützen und ihre Potenz zu demonstrieren. Was ein bisschen von der Perspektive ablenkt, auf die es dem Regisseur Stanley Kubrick bei Filmkostümen eigentlich ankam.

"Er gab mir den Rat, immer beim Kopf der Schauspieler zu beginnen, weil das der sichtbarste Teil eines Menschen sei. Davon ausgehend müsse man die Kostüme denken", sagt die italienische Kostümbildnern Milena Canonero. Auf der Berlinale wird sie mit einem Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, außerdem zeigt das Festival zehn ihrer Filme.

Auch wenn ihr Name nicht ganz so bekannt ist wie der von früheren Ehrenbären-Empfängern wie Wim Wenders oder Meryl Streep, sind Canoneros Arbeiten längst Teil der Popkultur geworden. Neben Kubrick arbeitete sie unter anderem mit Francis Ford Coppola, Roman Polanski, Steven Soderbergh, Wes Anderson und Sofia Coppola. Sie wurde neun Mal für den Oscar nominiert und hat ihn vier Mal gewonnen, ihre Entwürfe haben die Mode auch jenseits des Kinos beeinflusst. Designer wie Ralph Lauren, Alexander McQueen oder Marc Jacobs haben sich von ihr inspirieren lassen. Jacobs zum Beispiel imitierte die Kostüme, die sie für Kubricks "The Shining" machte, für seinen Laufsteg.

Der Ehrenpreis: Auf weißen Kostümen sieht man die Blutflecken besser: Milena Canoneros erste Kinoarbeit war Stanley Kubricks "A Clockwork Orange" (1971).

Auf weißen Kostümen sieht man die Blutflecken besser: Milena Canoneros erste Kinoarbeit war Stanley Kubricks "A Clockwork Orange" (1971).

(Foto: Festival)

Dass Canonero Mode kreiert, die nicht nur die Handlungszeit des Films reflektiert, sondern immer auch seine Entstehungszeit, hat mit ihren frühen Lehrjahren zu tun. Canonero, 1946 in Turin geboren, studierte Kunstgeschichte und Kostümdesign in Genua und ging dann Mitte der Sechziger an den einzigen Ort, der für eine modeinteressierte junge Frau Anfang zwanzig infrage kam: Swinging London. Über ein paar Jobs in der Werbung lernte sie Stanley Kubrick kennen. Der deutlich ältere Regisseur, längst ein Star, war beeindruckt von ihrem Blick auf die Popkultur und ihrer Fähigkeit, ihre Ideen in Kostüme zu verwandeln, die kein Abklatsch, sondern eine Weiterentwicklung waren. Also engagierte er sie für seinen nächsten Film "A Clockwork Orange".

Von den Beschreibungen des Schriftstellers Anthony Burgess, der die gefeierte Romanvorlage geschrieben hatte, ließ sich Canonero nicht beeindrucken. Stattdessen entwarf sie für die Droogs, wie die Schläger-Jungs heißen, eine Mash-up-Mode aus traditionellen, aktuellen und sanft futuristischen Elementen. Auf den Köpfen sitzen altmodische Hüte, beim Anführer Alex ist es sogar eine Melone. Sie wirken wie ein väterlicher Anachronismus, ein Kontrast zur adoleszenten Selbstüberschätzung der Jungs. Den jugendlichen Größenwahn wiederum unterstreichen ihre weißen Anzüge nach Schnitten der damaligen Jugendmode. Das unschuldige Weiß ist die Farbe, auf der das blutige Handwerk der Droogs am besten sichtbar werden kann. Sie schämen sich nicht für ihre Taten, sondern sind stolz darauf und wollen sie zelebrieren.

Der Ehrenpreis: Milena Canonero wurde 1946 in Turin geboren. Für ihre Kostüme bekam sie bislang vier Oscars, das erste Mal 1976 für Stanley Kubricks Historienepos "Barry Lyndon".

Milena Canonero wurde 1946 in Turin geboren. Für ihre Kostüme bekam sie bislang vier Oscars, das erste Mal 1976 für Stanley Kubricks Historienepos "Barry Lyndon".

(Foto: Festival)

Bösewichte hatte man im Kino bislang an ihrer dunklen Kleidung erkannt, die Tarnung in Weiß war ein ganz neuer Ansatz. Diesen Wolf-im-Schafspelz-Trick haben später auch andere Filmemacher kopiert, zum Beispiel Michael Haneke in "Funny Games". Auch seine Protagonisten tragen Weiß, im krassen Gegensatz zu der blutigen Handlung.

Dass Kleider Geschichten erzählen können, demonstrierte Milena Canonero aber nicht nur in Filmen, die in einer vergangenen oder zukünftigen Epoche spielen, wo also die Leistung des Kostümbildners am stärksten sichtbar wird. Sondern auch in Werken, die in der Gegenwart angesiedelt sind, wie in ihrer dritten Zusammenarbeit mit Stanley Kubrick, im Horrorfilm "The Shining" von 1980. Jack Nicholson spielt den Schriftsteller Jack Torrance, der sich mit seiner Frau und seinem Sohn im Overlook Hotel in den Bergen einquartiert. Die Betreiber brauchen einen Hausmeister, der sich um das Gebäude kümmert, während es in den Wintermonaten geschlossen ist, und Jack glaubt hier die Ruhe zu finden, die er zum Schreiben braucht. Allein die biedere Funktionskleidung, in die Canonero Jack Nicholson steckte - der ausgewaschene Rollkragenpullover, der rote Windbreaker -, erzählen das ganze Drama dieses Films. Dieser Mann sieht aus wie das Klischeebild eines Hausmeisters - und das Dilemma seines Lebens ist, dass er in seiner Mittelmäßigkeit nicht das Zeug zum Schriftsteller hat, sondern tatsächlich nur ein Hausmeister ist. Als er sich dieser Tatsache bewusst wird, sträubt er sich gegen die Demütigung und greift in einer blutigen Übersprungshandlung zur Axt.

Weil Kubrick die Schockeffekte von Stephen Kings Romanvorlage in einer Art Hassliebe gleichzeitig bewunderte und verachtete, sehen die Figuren in "Shining" alle ein bisschen wie ihre eigene Parodie aus. Sie sind gekleidet in Durchschnittsklamotten, deren Farben und Muster aber doch ein kleines bisschen zu übertrieben wirken, um sie tatsächlich im Alltag zu tragen.

Wie sehr das Kostümbild nicht nur zur Tragik, sondern auch zum Humor eines Films beitragen kann, damit hat Milena Canonero immer wieder experimentiert, zum Beispiel in "Marie Antoinette" (2006). Sie interpretiert das Königsmädchen als erstes "Fashion Victim" der Geschichte, lange bevor es Modesucht im modernen Sinn überhaupt gab. Es ist eine Spezialität von ihr, sich punktuell über die Historizität, die sie so gekonnt imitieren kann, hinwegzusetzen. Zum Beispiel durch ein paar Converse-Turnschuhe im Schrank der Königin, inmitten der höfischen Kleidung des 18. Jahrhunderts.

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Ihr vorerst letztes Meisterstück ist Wes Andersons k.u.k-Satire "The Grand Budapest Hotel", die ihr 2015 den vierten Oscar brachte. Die Schauspieler sehen aus wie die Süßigkeiten der Konditorei Mendl, die eine wichtige Rolle im Film spielt. Ein Bonbonfest der Farben, die den Höhepunkt ihrer Fin-de-Siècle-Dekadenz aber schon sanft überschritten haben und langsam verblassen. Womit es Canonero gelingt, den baldigen Untergang einer ganzen Epoche in den Kostümen vorwegzunehmen.

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