Süddeutsche Zeitung

Der dritte Märchenbruder Grimm:Zwergenfreund und Vogelsprachler

Wilhelm und Jacob Grimm haderten mit ihrem kaum bekannten jüngeren Bruder Ferdinand. Der war aber ein genialer Märchenerzähler und brillanter Schriftsteller.

Von Jutta Person

Wenn es ein Märchen vom schwarzen Schaf gäbe, würde es wohl eher ungut ausgehen. Vom äußersten Ende her betrachtet, wäre es wahrscheinlich sogar tieftraurig, ein Tod in Armut und Einsamkeit stünde am Schluss. Andererseits wären solche schwarzen Schafgeschichten unvollständig ohne ihr Dazwischen - ihre möglicherweise launigen, betriebsamen oder heimlich geselligen Spuren. Vielleicht sind aber auch die Märchenvorlagen das Problem: weil sie eine so runde wie rabiate Erzählung zusammensetzen und letztlich, mit ihrem ganzen magischen Gerät, auf Sinn und Ordnung aus sind. Meistens jedenfalls.

Ferdinand Grimm wurde 1788 als zweitjüngster Sohn der Familie Grimm in Hanau geboren und starb 1845 ziemlich elend in Wolfenbüttel. Der kaum bekannte Bruder von Jacob und Wilhelm Grimm verleitet notorisch dazu, einen Märchenplot in ein Leben hineinzulesen, das in vielen Abschnitten fast klischeehaft wirkt - eben märchenhaft in seinem Außenseitertum und seiner Pechvogelhaftigkeit: von den sechs Grimm-Geschwistern derjenige, der schon in Jugendjahren als seltsam, faul und widerspenstig galt, der seinen älteren Brüdern beim Sagensammeln zur Hand ging und dafür lobend erwähnt wurde, selbst weiter sammelte und schrieb, aber kein Publikum fand.

Entdeckt wurde Ferdinand Grimm schon in den siebziger Jahren, als der Germanist Heinz Rölleke zusammen mit Gerd Hoffmann eine Textsammlung mit dem Titel "Der unbekannte Bruder Grimm" herausbrachte. Mittlerweile weiß man mehr, aber längst nicht alles über Ferdinand Grimm - was Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz dazu bewogen hat, einen Wiederentdeckungsband unter dem Titel "Der fremde Ferdinand" zu veröffentlichen, mit Märchen, Sagen, Briefen, einer Erzählung, Erläuterungen und vor allem: einer höchst spannenden "biografischen Erkundung", die den Vergessenen wieder ins Bewusstsein ruft. Den Herausgebern geht es darum, den unbekannten Bruder als Märchensammler und Schriftsteller kenntlich zu machen, ohne dabei die Verdienste von Jacob und Wilhelm zu schmälern: "Wir erlauben uns aber, ihrem Bruder Ferdinand die Gerechtigkeit nachzutragen, die sie ihm verweigert haben."

Was war passiert? Nach dem frühen Tod des Vaters und dann auch der Mutter waren Jacob und Wilhelm in die Ernährerrolle für ihre vier jüngeren Geschwister gerückt. Zeitweise wohnen alle zusammen im Kasseler "Märchenhaus". Bald schon beschreiben Jacob und Wilhelm ihren Bruder Ferdinand als "träg", von unbeschreiblicher Faulheit ist die Rede, dazu kommt, durch die Linse der älteren Brüder betrachtet, der verschlossene Charakter eines renitenten Sonderlings. Ferdinand ist auf Du und Du mit Bachstelzen und Rotkehlchen und verwandelt sein Zimmer anscheinend in einen Taubenschlag (nicht metaphorisch gemeint). Seit seiner Kindheit ist er ein begeisterter Vogelbeobachter; nur stempeln die älteren Brüder ihn immer mehr zum "traurigen heiligen Franziskus" ab. Oder zum losen Vogel, denn sein Herumwandern, die Langschläferei und sein Desinteresse an Gelddingen sind ihnen ein Dorn im Auge. Besonders die Faulheit schwebt wie ein monströser Wunschballon über dieser Familiengeschichte; es klingt, als ob Jacob und Wilhelm, die Ultrafleißigen, lustvoll horrifiziert an dieser Legende stricken. Dabei war Ferdinand alles andere als faul, wie die Grimm-Forscher Boehncke und Sarkowicz überzeugend belegen.

Ferdinand wohnt in einem feuchtem Zimmer zur Miete, ernährt sich von "alter Wurst" und ist mit Märchen beschäftig

An Weihnachten 1810 muss es zu einem Skandal gekommen sein, über den Jacob und Wilhelm nur düstere Andeutungen von der "Unnatur" des Bruders machen; die Forschung tappt seither im Dunkeln. Boehnke und Sarkowicz vermuten, dass Ferdinand "sein 'Coming-out' vor der versammelten Festgemeinde mit erheblichem Aufwand inszeniert hat. Jacob und Wilhelm reagierten darauf mit homophoben Reflexen, wie sie, vor allem auch außerhalb von Berlin, seinerzeit nicht unüblich waren." Mit seinem Auftritt muss Ferdinand "die andachtsvolle Innerlichkeit im biedermeierlichen Interieur der Familie" effektvoll gesprengt haben.

Zumindest vorübergehend verschlechtert sich das Verhältnis der Brüder drastisch. 1815 verschaffen Jacob und Wilhelm dem Jüngeren eine Stelle beim Verlagsbuchhändler Reimer in Berlin, wo er fast 20 Jahre lang als Korrektor arbeitet. Die letzten Jahre seines Lebens versucht Ferdinand sein Glück als Schriftsteller in Wolfenbüttel. Finanziell ist er, wie schon oft, auf die Unterstützung der Brüder angewiesen. Allerdings gewähren Jacob und Wilhelm ihm nur das Geld, meistens mit herablassenden Ermahnungen verbunden, das ihm sowieso zusteht: sein Erbe, von dem unklar bleibt, warum es ihm in den letzten, kümmerlichen Jahren nicht ganz ausgezahlt wird. Ferdinand wohnt in einem feuchtem Zimmer zur Miete, ernährt sich von "alter Wurst" und ist mit Märchen beschäftigt. Als er stirbt, reist Jacob in letzter Minute an und organisiert die Beerdigung.

Es gab aber noch einen zweiten Familienskandal, der direkt in die Literatur führt: 1835 veröffentlichte Ferdinand die Erzählung "Tante Henriette" in der Mitternachtzeitung für gebildete Stände. Es geht um eine Familie, deren Mitglieder als reale Grimms dechiffrierbar sind und mit süffisantem Schwung verhohnepiepelt werden. Ein Maskenball wird vorbereitet, im Zentrum steht die umtriebige Henriette, Wilhelm Grimms Frau, ihr pedantischer Gatte und dessen Bruder. "Daumendicker Flausch, wie Kant ihn trug" und "kurze schlottrige schwarzgraue Pantalons" machen ihn zum schrulligen Kauz. Das gesamte Gebäude ist ein brummender Mikrokosmos, in dem auch die Wäscherinnen - "hagre magre Weiber in schlappen gilbelnden Bänderhauben" - zu Anschauungsobjekten der Volkstümlichkeit werden, eingerahmt von einer Hexenhauspersiflage: "schwarzer Schornsteinrauch malt über ihnen in der Luft einen langen Satansschweif, vor dessen Biegungen und Krümmungen weiße Katzen auf den Dächern schön niederducken".

Hier macht sich ein brillanter Schriftsteller noch über den letzten Spitzgiebel lustig, aber besonders die honorige Festgesellschaft wird vom "verknitterten Dämchen" bis zur "niederschwappenden Hängebacke" satirisch auseinandergenommen.

Die Sätze quellen vor Adjektiven nur so über und erreichen extreme Lieblichkeit

Wie vielfältig die literarischen Ausdrucksebenen Ferdinand Grimms waren, zeigt sich auch in den Märchen und Sagen, die den Hauptteil des Bandes bilden. Ein routinierter Quellenkenner und eleganter Gestalter zieht hier sämtliche Register: Kohlen verwandeln sich in Gold, ein Zauberer lässt seine Verfolger tanzen, ein rachsüchtiger Zwerg setzt einem Schäfer eine Nebelkappe auf, drei Linden wachsen auf den Gräbern unschuldig zum Tode Verurteilter, der Geist eines grauen Fräuleins geht um, bis ein Bräutigam sie erlöst, und der Waldgeist Rübezahl wird nach seinen Ursprüngen befragt.

Ferdinand scheint ein Spezialinteresse für Zwerge gehabt zu haben, die tief unter der Erde oder genauer: im Berg leben. Ansonsten versucht er, Jacob und Wilhelm nicht ins Gehege zu kommen, und tatsächlich bleibt er mit seinen drei unter Pseudonym verfassten Märchen- und Sagenbänden bedrückend erfolglos. Das Unheimliche und Urtümliche, die unter der Hand wieder losgelassene Wunsch- und Verwünschkraft von Märchen und Sagen, kommt in seinen Texten oft viel besser zur Geltung als in den "offiziellen" der großen Brüder.

In Ferdinands drittem Band erzählt das Kunstmärchen "Der Weibchenstein" von einem Mädchen, das aus Kummer zu einem Erdvolk flüchtet. Tief im Berg bewohnt es eine Wunderwelt voller "großmächtiger Tulipane", "sprenkeliger Fasane", "zierlich nagender Raupen" und so weiter; die Sätze quellen vor Adjektiven nur so über und erreichen extreme Lieblichkeit. Trotzdem findet Ferdinand immer wieder zurück zum doppelten Boden seiner souverän erzählten Geschichten.

Die "Burg- und Bergmärchen" erscheinen 1846 posthum, herausgegeben von einem bis heute unbekannten "B.". Eine freundliche anonyme Rezension erscheint, die "poetischen Werth" attestiert. Vielleicht war Ferdinand doch nicht ganz so einsam wie vermutet, spekulieren die Herausgeber, vielleicht gab es einen an ihm und seinen Texten interessierten Wolfenbütteler Freundeskreis. Man kann ihm das, märchengemäß, nur nachträglich wünschen. Für die Gegenwart wünscht man sich mehr Forschung zu Ferdinand - und mehr Geschichten von Zwergenfreunden, Vogelsprachlern und heimlichen Märchenkönigen.

Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz: Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 448 Seiten, 44 Euro.

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SZ vom 26.10.2020
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