"Der Boden unter den Füßen" im Kino:Das Leben, ein Laufband

Kinostart - 'Der Boden unter den Füßen'

Das Leben von Lola (Valerie Pachner, links) ist streng geordnet. Da passt die psychisch kranke Schwester Conny (Pia Hierzegger) nicht rein.

(Foto: dpa)

In ihrem Drama "Der Boden unter den Füßen" erzählt die österreichische Regisseurin Marie Kreutzer von einer jungen Business-Frau in der Krise.

Von Annett Scheffel

Lola (Valerie Pachner) führt ein Hochleistungsleben. Ihre Altbauwohnung in Wien ist weiß und leer. Zu Hause ist sie ohnehin fast nie. Immer auf Geschäftsreise. Quer durch Europa treibt die junge Unternehmensberaterin die Umstrukturierung von Firmen voran. Sie ist gut darin. Den nächsten Karriereschritt immer fest im Blick. Der Alltag ist so präzise getaktet, wie das Unterwäschefach geordnet. Nach 48-Stunden-Schichten sitzt sie perfekt gestylt beim Business-Dinner und fällt dann in kurzen, unruhigen Schlaf. Das einzige Gegenmittel, das sie gegen dieses kräftezehrende Leben zwischen Rollkoffern und Business Cases kennt, ist der Frühsport in anonymen Hotelfitnessstudios. Der Boden unter ihren Füßen ist ein Laufband.

Marie Kreutzers Film, der im Februar im Wettbewerb der Berlinale lief, beginnt als kühle Charakterstudie einer Frau, die in einer Welt der Leistungseffizienz nur auf eine Weise zu funktionieren weiß: in ständiger Bewegung. Dass man diese Lola als Zuschauer trotzdem zu mögen beginnt, liegt daran, dass Kreutzer - ähnlich wie Maren Ade in "Toni Erdmann" - den Wahnsinn in das Leben ihrer eisernen Karrierefrau brechen lässt. Ein Suizidversuch ihrer psychisch kranken Schwester Conny (Pia Hierzegger) reißt Lola aus ihrem wohlgeordneten Alltag. Conny ist der letzte Rest Familie, der Lola geblieben ist, der letzte Rest Verantwortung außerhalb der unsentimental kalkulierten Kosten und Fakten ihrer Arbeitswelt - und den will sie vor den Kollegen tunlichst verheimlichen.

Aber während sie zwischen Rostock, wo sie eine Firma sanieren soll, und ihrer Schwester im Spital in Wien hin- und herfliegt, bilden sich immer mehr Risse in der Fassade. Die österreichische Filmemacherin Marie Kreutzer, die auch das Drehbuch geschrieben hat, lässt diese Geschichte aber nicht wie Maren Ade in eine irre Komik hinein stolpern, sondern inszeniert sie als kluge Mischung aus Familiendrama und seltsam nüchterner Geistergeschichte. Denn mit der schizophrenen Conny schleichen sich gleichzeitig Mystery-Elemente in den Film: rätselhafte Anrufe und Briefe erreichen Lola, Fahrstühle geben den Geist auf, sie vergisst wichtige Termine. Bald zweifelt Lola an sich selbst. Ist es ein Burn-out? Oder verliert sie selbst den Bezug zur Realität?

Das Grauen in diesem Film, das ist die Angst, selbst durchzudrehen. In diesem Sinne ist diese Lola auch eine moderne Hitchcock-Figur: eine kühle Blondine, deren geistige Verfassung ungewiss ist, eine unzuverlässige Erzählerin, eine Marnie, die glaubt, alles im Griff zu haben und sich genau darin täuscht. Sogar das Vexierspiel aus "Vertigo" deutet Kreutzer an. Ist die blondierte Lola nicht in Wirklichkeit ebenso durcheinander wie die brünette Conny, von der sie sich so strikt abgrenzen will? "Man würde nicht meinen, dass wir Schwestern sind", sagt sie einmal. Dabei unterscheidet sich die sterile Bürowelt, in der sie sich bewegt, gar nicht so sehr von der Psychiatrie. Gefangen sind eh beide. Marie Kreutzer ist auf diese Weise nicht nur das Psychodrama einer unter Druck geratenen Alphafrau gelungen, sondern auch eine Art klinische Beobachtung der Frau in der profitorientierten Wirtschaftswelt des 21. Jahrhunderts. Eine Frau, die zwischen die Räder zweier inkompatibler Systeme gerät: Profit- und Privatleben. Was in einem System Tugend ist, gilt im anderen als Ballast. Lola verzweifelt beim Versuch, sie auseinanderzuhalten ebenso wie dabei, sie zu verbinden. Valerie Pachner spielt Lola mit einer schönen, durchscheinenden Angespanntheit, die sich zusehends in Panik verwandelt. Immer wieder zeigt die Kamera von Leena Koppe sie stehend in der Horizontalen, als Stehauffigur, die nie ganz in die Welt passt, in die sie so gern passen will. So ist "Der Boden unter den Füßen" auch ein kluges Verwirrspiel über die Brüche in modernen Identitäten - und die unheilvolle Nähe von Aufstieg und Absturz.

Der Boden unter den Füßen, Österreich 2019 - Regie, Buch: Marie Kreutzer. Kamera: Leena Koppe. Mit: Valerie Pachner, Pia Hierzegger, Mavie Hörbiger, Michelle Barthel. Salzgeber, 108 Minuten.

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