Süddeutsche Zeitung

"Der blinde Fleck" im Kino:Mit stechendem Blick

Ein Polit-Thriller, der die Augen öffnet: Daniel Harrich geht es in "Der blinde Fleck" um die wahren Hintergründe des Oktoberfest-Attentats von 1980. Er zeigt auf, dass die Politik nicht nur bei den NSU-Morden weggeschaut hat, sondern schon damals. Doch vielleicht ist in diesem Fall das Kino am Ende mächtiger als die Vertuscher.

Von Rainer Gansera

Auf dem Oktoberfest geht eine Bombe hoch, 13 Menschen sterben - und ein hoher Beamter der bayerischen Staatsregierung hat nichts Eiligeres zu tun, als die wahren Hintergründe des Attentats zu verschleiern. Wie leicht hätte ein derart brisanter Stoff ins Aufgedonnerte und Suggestive entgleiten können! Eine Gefahr, die Regisseur und Co-Autor Daniel Harrich souverän zu vermeiden weiß. Seine unaufdringliche Erzählgeste folgt dem innersten Anliegen des Films: den Opfern des Oktoberfest-Attentats würdig zu gedenken.

Ein Glücksfall

"Der blinde Fleck" ist der Glücksfall eines Polit-Thrillers, der nicht Genreformeln nacheifert, sondern die Augen für vertuschte, verheimlichte und vorsätzlich verwischte Zusammenhänge öffnet. Schritt für Schritt, geduldig und hartnäckig. Die Geschichte folgt den Ermittlungen des Journalisten Ulrich Chaussy, der am Drehbuch mitgearbeitet hat und im Film von Benno Fürmann verkörpert wird.

Schon der Prolog führt zurück in eine andere Zeit, erinnert mit einer fulminanten Montage aus Archivmaterial an den polemisch schrillen Wahlkampf des Jahres 1980. Franz Josef Strauß, Bayerns Ministerpräsident und Kanzlerkandidat, wütet gegen die amtierende SPD/FDP-Regierung, stellt deren vermeintliche Laschheit gegenüber dem Linksterrorismus an den Pranger. Dann die schockierende Nachricht.

Freitag, 26. September 1980, 22 Uhr 19: Am Haupteingang der Oktoberfestwiese töte ein Sprengsatz 13 Menschen, mehr als 200 werden verletzt, 68 von ihnen schwer. Nach einer Tatortbesichtigung macht Strauß sogleich die RAF für das Attentat verantwortlich, muss aber wenige Tage später zurückrudern.

Generalbundesanwalt Rebmann gibt bekannt, dass der beim Anschlag ums Leben gekommene 21-jährige Geologiestudent Gundolf Köhler, der als Täter in Betracht komme, Mitglied einer rechtsextremen Organisation gewesen sei. Rebmanns Fazit: "Wir nehmen nicht an, dass Köhler als Alleintäter gehandelt hat."

1983, nach dreijährigen Ermittlungen, die gegenteilige, mit Ausrufen der Empörung quittierte Aussage des Generalbundesanwalts bei einer Pressekonferenz: "Köhler handelte aus persönlichen Motiven, sexueller Frustration und Perspektivlosigkeit. Ein politisches Motiv konnte nicht erkannt werden. Es gibt keinen Hinweis auf eine Beteiligung weiterer Täter."

Hier kommt nun Chaussy als journalistischer Ermittler ins Spiel. Mit Opferanwalt Werner Dietrich (Jörg Hartmann) bespricht er die Fragwürdigkeit der Einzeltäter-These, stellt Nachforschungen an, findet eine Fülle von Hinweisen auf skandalöse Versäumnisse bei den Ermittlungen.

Chaussy sammelt Zeugenaussagen, die auf Mittäter schließen lassen, aber von den Behörden nie verfolgt wurden. Seine Recherchen verdichten sich, als ein offenbar von Gewissensbissen geplagter Beamter des Innenministeriums, der anonym bleiben will (August Zirner), sein Informant wird.

Ins Visier gerät Dr. Hans Langemann, Berater von Strauß und Chef der Staatsschutzabteilung im bayerischen Innenministerium, der "befreundete" Boulevardjournalisten derart früh mit gezielten Informationen versorgte, dass mögliche Mittäter und Hintermänner Köhlers gewarnt waren, Spuren verwischen konnten. Ungeheuerliche Dinge, die sich da enthüllen, aber Chaussy gelingt es nicht, eine Wiederaufnahme der Ermittlungen zu erwirken.

Nüchterne Logik der Wahrheitsfindung

Mit der David-gegen-Goliath-Konstellation, den konspirativen Treffen und einer veritablen Verfolgungsjagd verweist "Der blinde Fleck" auf klassische Thriller-Motive, ordnet sie jedoch einer nüchternen Logik der Wahrheitsfindung unter. Zum investigativen Superhelden wird Chaussy nie stilisiert.

Benno Fürmann konturiert ihn mit stechendem Blick als rastlosen Nachforscher, der freilich auch Momente der Resignation und des Selbstzweifels kennt, durchsichtig und nachvollziehbar. Heiner Lauterbach formt den Staatsschützer Langemann zum machtgefügigen Zyniker. Als treffliche Casting-Idee erweist es sich, wenn die "Tatort"-Stars Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl in markanten Nebenrollen auftauchen.

Mechanismen des Wegschauens

Die Blindheit gegenüber dem rechten Terror aber, die schon im Titel anklingt, ist alles andere als ein historisches Problem. Chaussy stellt im Schlusskapitel die aktuelle Verbindung her: "Damals, 1980, waren die weitgehend gleichen Mechanismen des Wegschauens, Ausblendens, des Nicht-wahrhaben-Wollens bereits voll entwickelt, die wir jetzt im Fall NSU mit Erschrecken und Scham erkennen". Jede Szene, die Chaussy durchlebt, ist immer auch von der Frage getrieben: Haben wir die Kraft, dem, was uns Angst macht, in die Augen zu schauen?

Vielleicht ja doch. Denn inzwischen ist etwas gelungen, wovon selbst Harrich beim Start des Projekts "kaum zu träumen wagte". Nach der Vorpremiere im Bayerischen Landtag und der Uraufführung beim Münchner Filmfest versprach Innenminister Joachim Herrmann dem Anwalt der Opfer endlich Einsicht - in alle bisher geschwärzten Akten.

Diese neuen Fakten könnten nicht nur die zentrale These des Films, dass der Bombenleger kein Einzeltäter war, bestätigen. Im Hintergrund lauern möglicherweise noch noch ganz andere Verbindungen, die zu dem Stichwort "Gladio" führen - jener paramilitärischen rechten Geheimorganisation, die von NATO, CIA und anderen westlichen Geheimdiensten initiiert und ausgerüstet wurde, um im Fall einer sowjetischen Invasion hinter den feindlichen Linien Sabotage zu betreiben.

Der blinde Fleck, D 2013 - Regie: Daniel Harrich. Buch: Harrich, Ulrich Chaussy. Kamera: Walter Harrich, Tobias Cords. Mit: Benno Fürmann, Nicolette Krebitz, Heiner Lauterbach. Ascot Elite, 99 Min.

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Quelle:
SZ vom 23.01.2014/mfh/pak
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