Der Auschwitzprozess als Hörspiel:Auf Höllenfahrt

Wo wurden die Büchsen mit dem Zyklon B gelagert? Wer hat sie dort abgeholt? "Die Ermittlung" von Peter Weiss' über den Auschwitzprozess gibt es jetzt als Hörspiel. Nicht leicht, sich das anzuhören.

Christoph Schmaus

Als "Die Ermittlung" von Peter Weiss den Frankfurter Auschwitzprozess im Oktober 1965 auf die Bühne brachte, war das ein gesamtdeutsches Ereignis. Die Uraufführung fand an 14 Theatern in der DDR und der Bundesrepublik gleichzeitig statt, daneben gab es eine Inszenierung in London. Gerade mal zwei Monate waren seit der Urteilsverkündung im Gerichtssaal vergangen.

Der Auschwitzprozess als Hörspiel

Der Auschwitzprozess (1964) vor dem Frankfurter Schwurgericht, erster Tag: Wilhelm Boger, Dr. Viktor Capesius und Oswald Kaduk (v.l.n.r.) sind die drei Hauptangeklagten.

(Foto: Foto: AP)

Die Verbreitung des Stücks wurde noch einmal vorangetrieben: Der Ost-Berliner Deutschlandsender und die bundesdeutschen Rundfunkanstalten produzierten je eine eigene Hörspielfassung. Bei der jetzt neu aufgelegten Produktion aus dem Westen hatte der Hessische Rundfunk die Leitung übernommen, Regie führte Peter Schulze-Rohr, die Einrichtung besorgte Hermann Naber. Er erklärte damals, nicht der Vergangenheit, die man gern vergessen möchte, gelte die "Ermittlung", sondern der sich verschließenden Gegenwart.

Die persönliche Schuld windet sich

Es zeigt sich aber, dass Weiss' Stück, gerade in der Hörspielfassung, mehr als eine zeitgenössische Reaktion auf ein aktuelles Ereignis ist, mehr ist als moralisches Dokumentartheater, das nach den Tätern in der Mitte der Gesellschaft fahndet. Peter Weiss hat im juristischen Prozess nicht weniger als eine überzeitliche dramatische Form gefunden, mit der sich Auschwitz darstellen lässt.

Die juridische Untersuchung erforscht das Geschehen im Konzentrationslager, sie wird zum Erzählprinzip. Im Frage-Antwort-Rhythmus entspannt sich zwischen den Aussagen von Zeugen und Angeklagten das Tableau der Unmenschlichkeit. Das "Oratorium in 11 Gesängen" ist eine Leidensgeschichte in elf Stationen. Sie beginnt mit dem "Gesang von der Rampe", wo die Menschentransporte eintreffen und die Schwachen und Kranken gleich ins Gas geschickt werden. Sie endet mit dem "Gesang von der Feueröfen", wohin letztlich auch die Schleife der schier unvorstellbaren Entwürdigung führt.

Auf Höllenfahrt

Weiss hat selbst auf die Parallelen zu Dantes "Göttlicher Komödie" verwiesen: Auschwitz als das Inferno auf Erden, der Rückblick auf die Höllenfahrt als Gerichtsverfahren.

Sinn und Zweck dieser Ermittlung ist es, in der unüberschaubaren Gesamtheit des Verbrechens die konkrete Tat festzustellen. Sie versteckt sich in der Komplexität der Vernichtungsmaschinerie. Die persönliche Schuld windet sich zwischen den vielen Befehlen, Anordnungen und Verantwortungsbereichen. Deshalb müssen Richter und Ankläger den einzelnen Abläufen im Detail nachgehen. Wo wurden die Büchsen mit dem Zyklon B gelagert? In der Apotheke? Wer hat sie dort abgeholt? Was stand auf den Lieferscheinen?

Nicht leicht, sich das anzuhören

Auch die ganze Hässlichkeit der Täterschaft kommt dabei ans Licht, das Morden aus reiner Lust ebenso wie die Menschenversuche. Die richterliche Befragung darf nichts aussparen, hierin liegt der Vorteil ihrer grausamen Genauigkeit. Geschildert wird die Funktionsweise der Gaskammern, der brutale Mord an Kleinkindern und wie man den Frauen die Eierstöcke mit Röntgenstrahlen verbrannte.

Es ist nicht leicht, sich das anzuhören. Das Hörspiel dauert zudem volle drei Stunden und verlangt ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und konzentrierter Anstrengung. Es mag auch sein, dass auf die Akustikversion das zutrifft, was Walter Jens bei der Uraufführung der "Ermittlung" an der Freien Volksbühne Berlin bemängelt hat. Er wünschte sich, "der Generalstilisierung zum Trotz, mehr Mundart und Jargon, Akademiker-Rede und dumpfes Gebruttel...", ein persönlicheres Erscheinungsbild der Figuren also.

Nicht abgeschlossen

Vielleicht aber kommen die Kunstform des Hörspiels im Allgemeinen und seine schlicht gehaltene Rede im Speziellen dem Stück besonders entgegen. Vielleicht übertreffen sie sogar die Möglichkeiten und Wirkungsweise der Inszenierungen auf den Bühnen, die sich ohnehin nicht selten auf eine Art szenische Lesung beschränkten. Die "Ermittlung" lebt schließlich nicht von der handfesten Handlung, und wenn nur die Stimmen zu hören sind, wenn sie nicht an einen einzelne Körper gebunden sind, dann entfalten sie den richtigen Raum zwischen individuellem Schicksal und persönlicher Schuld auf der einen Seite und der allgemeinen Dimension von Leid und Täterschaft auf der anderen Seite.

Kunst, die eine solche Möglichkeit eröffnet, bleibt nicht auf ihre tagespolitischen Bezugnahmen beschränkt, auch nicht auf die gesellschaftlichen Debatten eines Jahrzehnts. Der moralische Appell, der sich immer wieder in der "Ermittlung" entfaltet, kann heute auch dezenter anklingen.

Der Zweck, die Menschen aufzurütteln und ihre Blicke auf die Verbrechen der Nazis in ihrer Mitte zu richten, steht gewiss nicht mehr an oberster Stelle. Auch die Gefahr der Wiederholung muss nicht mehr unablässig beschworen werden. Aber indem das Stück auf die Darstellung des abschließenden richterlichen Urteils verzichtet, bleibt es nicht auf die historische Vorlage beschränkt. Es kann die Opfer immer wieder in den Zeugenstand rufen und die Täter auf die Anklagebank zitieren. Diese Verhandlung ist nicht geschlossen.

PETER WEISS: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Regie: Peter Schulze-Rohr. Hörverlag, München 2007. 3 CD, 179 Minuten, 24,95 Euro.

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