"Der Aufsteiger" im Kino:Im Schlund des Krokodils

Sind Politiker Opportunisten und Intriganten? Na klar, sagt der Franzose Pierre Schoeller in seinem Film "Der Aufsteiger" - und zeigt das Zoon politikon doch als faszinierende Bestie.

Philipp Stadelmaier

Kinostarts - 'Der Aufsteiger'

So träumen Minister, bevor sie erwachen - der politische Alltag ist dann leider weniger glamourös. Szene aus Pierre Schoellers "Aufsteiger".

(Foto: dpa)

Der Herr Transportminister, das gesteht ihm seine Beraterin einmal im Vertrauen, sei "flou". Unscharf, undefiniert. Ohne Bild, ohne Geschichte. Zwei Dinge sprechen aber für ihn, unbestreitbar: ein animalischer Instinkt - und eine Prise Wahnsinn. "Wir sind ausgehungerte Tiger in der Nacht", raunt er am Anfang des Films, als er aus dem Schlaf gerissen wird, abkommandiert zur Betroffenheits-Stippvisite mit Leichenbeschau - ein Busunglück mit toten Kindern. Und schon setzt er, heißhungrig auf eine "echte politische Vision", zum großen Sprung an: Unter ihm, dem neuen, von den Medien so getauften "Alphatier des Verkehrs", werden die Bahnhöfe Frankreichs nicht privatisiert werden. Niemals!

Dann wird dieser Bertrand Saint-Jean, dem Olivier Gourmet seinen drahtig-flinken Körper und seine scharfen Augen leiht, auf der Heimfahrt kotzen. Und es wird ihm, in Erinnerung an "Tod und Verderben", einen Tag später das Mittagessen - für einen Transportminister äußerst unerfreulich - in der "falschen Route" stecken bleiben (in der Luftröhre, die man bloß zum Atmen, nicht zum Verschlingen braucht). Denn der Mann ist kein Unmensch: er ist schlicht ein Tier, ein politisches Tier. Ein Staatsmann eben.

Von dem Staat, dem er dient, heißt es in Pierre Schoellers Film "Der Aufsteiger" einmal, er stecke tief in der Misere, ohne Geld und Macht, handlungsunfähig. Gilles (Michel Blanc), der Stabschef des Ministeriums, hört sich einmal André Malraux' berühmte Rede für den im KZ umgekommenen Résistance-Chef Jean Moulin an. Die Nostalgie nach einer glorreichen nationalen Integrität zeigt hier nur, dass ein Land erneut besetzt und entmachtet wurde - von der Privatwirtschaft diesmal. Bleibt, mit dem französischen Titel des Films, den verbliebenen Biestern im Staatsdienst nur, "L'exercice de l'État" zu absolvieren: etwas Machtgymnastik - und "Staat machen" in eigener Sache.

Schoellers Film, der in Frankreich 2011 in die Kinos kam, zeigt dennoch den Versuch, die politische Sphäre nach der desolaten Sarkozy-Ära wieder ein wenig zu reanimieren. Und dazu bedarf es bereits eines kleinen Gewaltakts, einer utopischen, beinahe revisionistischen Zäsur: Geradezu ostentativ wird hier Sarkozy ausgeblendet und exorziert - der Präsident der Republik erinnert sehr an Chirac, Saint-Jean selbst ein wenig an Hollande. Dazwischen ist, so scheint es, nie was gewesen.

So heißt es von Saint-Jean einmal hoffnungsvoll, er sei "nicht so wie die anderen", ein Gegner der alten elitären Zirkel. Dann aber entpuppt er sich, zur großen Nicht-Überraschung aller, als ein lupenreiner Opportunist und Intrigant, Privatisierung, ja bitte - und Schoellers Film schlägt hier gewiss die Töne an, die ein zynisches, aufgeklärtes und politikverdrossenes Publikum nur allzu gut versteht. Saint-Jean wird sicher niemanden "repräsentieren", weder die Hinterbliebenen des Busunglücks noch die Eisenbahner noch die skeptischen Hafenarbeiter, vor denen er eine unwillige Rede hält - immerhin bemüht er sich aber noch um die großen Fragen: "Wir verpassen das Essenzielle, während wir unsere Reförmchen machen!"

Animalische Energie

Gerade das "Essenzielle der Politik ist also verschwunden - und es scheint schon einen animalischen Instinkt zu brauchen, um es wieder aufzuspüren. Einen Jagdinstinkt und die Begierde nach einer unverfälschten nackten Einverleibung. Vielleicht ist es das, was sich in Saint-Jeans rätselhaftem Traum ankündigt, mit dem der Film beginnt: Krokodil trifft nackte Nymphe in Staatskanzlei. Ein Festmahl, genau rhythmisiert von einem obszönen Metronom aus schweren Gongschlägen, vom begehrlichen Puls des hungrigen Biestes.

Man könnte nun sagen, dass der Film selbst allzu sehr auf der Seite der Macht, also auf der Seite des Ministers bleibt, vor dessen animalischer Energie er sich fasziniert ausstreckt wie die Nackte vor dem Krokodil; als wäre es ganz selbstverständlich, beinahe entschuldbar, dass so jemand auf dem Weg nach oben mit der letzten wirklichen Macht - der Wirtschaft - alsbald kollaborieren wird. Man kann auch monieren, dass die Gegenschüsse auf die "Untertanen" marginal sind, wenn etwa mit Saint-Jeans Fahrer und dessen sardischer Frau zwei Prototypen des politikverdrossenen Volkes gezeigt werden: der kuschende, beinahe autistische Schweiger; und die konfrontative, aber recht naive Frau, die "mal eine Frage hat".

Und dennoch wird Saint-Jean getrieben, bleibt er ebenso Jäger wie Gejagter. Er steigt ins Grappa-Wetttrinken mit der Sardin ein, um ihr Vertrauen in die Politik wiederherzustellen (was daneben geht). Der Mann sucht noch da, wo er nur noch lallen kann, verzweifelt nach einer echten "politischen Lektüre" - nach der richtigen Sprache, die einst das Zoon politikon auszeichnete, die aber längst im uneinholbaren Kommunikationsgeschnatter verloren ging. "Es muss etwas sein, was die Leute noch nie gehört haben", fordert er einmal für den Text einer Rede - die dann nie gehalten wird. Je mehr er der Sprache hinterherjagt, unablässig am Smartphone klebend, desto mehr wird er sie vertreiben. Er wird seinen flinken, drahtigen Körper immer erneut ins Rennen werfen, immer noch einen Gang höher schalten müssen, bis er sich irgendwann überschlägt. Der Tiger springt ins Leere.

Nur einmal gelangt er so vielleicht zu einer guten "politischen Lektüre". Die Politik sei eine nie verheilende Wunde, sagt er da. Eine Narbe, mit anderen Worten, welche die nunmehr kastrierten Raubtiere, von Wirtschaft und Kommunikation domestiziert, an ihre wahre Agora erinnert - ihren vergessenen Dschungel.

L'exercice de l'État, F 2011 - Regie: Pierre Schoeller. Buch: Schoeller, Bénédicte Kermadec, Kamera: Julien Hirsch. Mit Olivier Gourmet. Kool, 112 Min.

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