Süddeutsche Zeitung

"Der Andere Kosmos":Von Berlin bis Bombay

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Wie ihr Verfasser waren die Texte des deutschen Naturforschers Alexander von Humboldt Weltreisende - Zeit, sein publizistisches Werk zu entdecken.

Von Lothar Müller

Als der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt am 6. Mai 1859 in seinem neunzigsten Lebensjahr in Berlin starb, war er ein berühmter Mann. So berühmt, dass er sechs Wochen zuvor in die Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen folgende Notiz hatte einrücken lassen: "Leidend unter dem Drucke einer immer noch zunehmenden Correspondenz, fast im Jahresmittel zwischen 1600 und 2000 Nummern (Briefe, Druckschriften über mir ganz fremde Gegenstände, Manuscripte, deren Beurtheilung gefordert wird, Auswanderungs- und Colonialprojecte, Einsendung von Modellen, Maschinen und Naturalien, Anfragen über Luftschiffarth, Vermehrung autographischer Sammlungen, Anerbietungen mich häuslich zu pflegen, zu zerstreuen u. zu erheitern u.s.w.), versuche ich einmal wieder, Personen, welche mir ihr Wohlwollen schenken, öffentlich aufzufordern, dahin zu wirken, dass man sich weniger mit meiner Person in beiden Continenten beschäftige und mein Haus nicht als ein Adress-Comptoir benutze, damit bei ohnedies abnehmenden physischen und geistigen Kräften mir einige Ruhe und Musse zu eigener Arbeit verbleibe. Möge dieser Ruf um Hülfe, zu dem ich mich ungern und spät entschlossen habe, nicht lieblos gemissdeutet werden!"

Wie berechtigt dieser hinreißende Hilferuf war, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass er weltweit nachgedruckt wurde, in einer Halbwochenzeitung in Jackson, Mississippi übrigens unter dem Titel "The Miseries of Greatness" just am Todestag seines Verfassers. Es sagt sich leicht, der Ruhm Alexander von Humboldts habe sich schon zu Lebzeiten international ausgebreitet. Und es lohnt sich hier wie generell, über die Voraussetzungen nachzudenken, die in eine Redewendung eingehen. Im Ruhm, der sich scheinbar von selbst ausbreitet, steckt die Geschichte der Medien.

Ihn interessierten Bergbau, Kuhpocken, Sklavenhandel, Geologie und vieles mehr

Im zwanzigsten Jahrhundert war vor allem das Bündnis von audiovisuellen Medien und Printmedien an der Herausbildung der Spezies "die Prominenten" beteiligt. Im neunzehnten Jahrhundert waren Briefe, Zeitschriften und Zeitungen die Schlüsselmedien für die Produktion internationalen Ruhms. Dafür ist Alexander von Humboldt ein faszinierendes Beispiel. Er hat seiner großen Reise in die spanischen Kolonien in Mittel- und Südamerika, die er in den Jahren 1799 bis 1804 mit seinem Begleiter Aímé Bonpland unternahm, die "Ansichten der Natur" (1808) abgewonnen, eines seiner erfolgreichsten Bücher, sowie eine vielbändige Reisebeschreibung, und seiner russisch-sibirischen Reise des Jahres 1829 das dreibändige Reisewerk "Asie centrale" (1843).

Aber die Bücher allein hätten nicht ausgereicht, einen Ruhm von so internationaler Dimension hervorzubringen, wie ihn der Hilferuf Humboldts am Ende seines Lebens dokumentiert. Sein letztes großes Werk "Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung" blieb unvollendet, aber die Bände, die zu Lebzeiten erschienen, waren von einer Fülle auszugsweiser Abdrucke und Vorabdrucke umspült.

Es ist daher eine gute Idee, wenn die Wissenschaftler, die an der Universität Bern eine zehnbändige Studienausgabe der Schriften Alexander Humboldts erarbeitet haben, die im Juli erscheinen wird, als Pilotband unter dem Titel "Der Andere Kosmos" eine Auswahl vorlegen, die sich ganz auf die in der periodischen Presse erschienenen Texte konzentriert. Sie folgt einem sehr einfachen Prinzip. Beginnend mit dem Jahr 1798, in dem Humboldts erster Aufsatz erschien, lässt sie Jahr für Jahr bis zum Hilferuf im Todesjahr einen Zeitschriftentext auf den anderen folgen, und zwar so, dass dabei sowohl das breite Interessenspektrum Humboldts von der Geologie, von Bergbau und Pflanzenkunde über die Kuhpocken in Mexiko und die "electrischen Fische" bis hin zur Kritik an der Sklaverei und den Überlegungen "Über die künftigen Verhältnisse von Europa und Amerika" hervortritt wie die Internationalität der Publikationsorte.

Wie ihr Verfasser waren die Texte Humboldts Weltreisende. Sie erschienen in London und Paris, Madrid und Amsterdam, in New York und Moskau, Brüssel und Washington, Calcutta und Sydney. Eine der Voraussetzungen dieser Weitläufigkeit lässt schon das Debüt des knapp 20-Jährigen in der Gazette littéraire de Berlin erkennen, sein Aufsatz "Über den Bohon-Upas", einen giftigen Baum in Indien, der auf Deutsch nur in deutscher Übersetzung zu lesen ist. Zwanzig Jahre lang hat Humboldt in Paris gelebt, eine große Zahl seiner Werke, auch der Reisebeschreibungen, auf Französisch verfasst.

Es war nicht unerheblich, wo ein Text erschien, etwa wenn eine Zeitung in Louisville, also im Süden der Vereinigten Staaten, im September 1831 seine kritische Notiz "Der Sklavenhandel" druckte oder die Bombay Times 1856 seinen Protest dagegen, dass der Herausgeber der amerikanischen Ausgabe seines Buches über Cuba just das siebte, politisch bedeutsame Kapitel fortgelassen hatte, die Ausführungen über die Rechtsungleichheit und die Sklaverei.

Über die Gelehrtenwelt, in deren Korrespondenzen seine Berichte aus den tropischen oder sibirischen Regionen sogleich debattiert wurden, ging das Publikum des Zeitschriftenautors Humboldt hinaus. Der Verleger Johann Friedrich Cotta hatte 1807 das Morgenblatt für gebildete Stände gegründet. Gleich im ersten Jahrgang war Humboldt, dessen Werke wie die Goethes bei Cotta erschienen, mit dem Stück "Ueber die erdefressenden Otomaken" vertreten, einem Vorabdruck aus den "Ansichten der Natur". Was Humboldt über das Kreuz des Südens oder - aus eigener Erfahrung - über den Verlauf von Erdbeben schrieb, über die Verbindung von Orinoko und Amazonas, die Entstehung des Vulkans Jorullo in Mexiko im Jahre 1759 oder die Besteigung des Chimborazo, ist hier in der Form zu lesen, in der es das internationale Zeitschriftenpublikum erreichte.

"Der Sterne Glanz war mild und planetarisch" - hier schreibt ein großer Prosaautor

Ein Anlass der Berner Studienausgabe wie dieses Buches ist der 250. Geburtstag Alexander von Humboldts im September. Ein zweiter ist das Herannahen der Eröffnung des Humboldt-Forums. Der wehmütige Brief Alexanders an seinen Freund in Paris, den Physiker und Astronomen Dominique François Jean Arago, über den Tod seines Bruders Wilhelm im Jahr 1835 ist Teil dieser Auswahl. Sie kann dazu beitragen, die Debatten über die kolonialen Kontexte der Berliner Sammlungen an die Schriften der Namensgeber des Humboldt-Forums zurückzubinden, als ideales Gegenüber der Auswahl aus den Reisetagebüchern Humboldts, die Ottmar Ette unter dem Titel "Das Buch der Begegnungen" (2018) bei Manesse herausgegeben hat.

In der Mississippi State Gazette in Natchez erschien im Juni 1823 der Bericht "A Tomb of a Nation". Er geht auf den Besuch Humboldts und Bonplands in der "Knochenhöhle" von Ataruipe während ihrer Reise entlang des Orinoko im Jahr 1800 zurück: "Stillen Betrachtungen hingegeben, verließen wir die Grotte von Ataruipe. Es war eine der ruhigen und heitern Nächte, wie sie unter dem heißen Himmelsstriche so häufig vorkommen. Der Sterne Glanz war mild und planetarisch. Ihr Funkeln mochte am Horizont kaum wahrgenommen werden, welcher durch die großen Nebel-Gestirne der südlichen Halbkugel beleuchtet erschien... Der mit Gewächsen dicht besetzte Boden glänzte von einem hellen und beweglichen Feuer, als hätten die Gestirne des Firmaments sich auf die Savane niedergelassen. Mehrmals blieben wir am Ausgang der Grotte stehen, um die Schönheit dieser außerordentlichen Landschaft zu genießen."

Diese Passage zeigt wie viele andere in diesem Buch, dass Alexander von Humboldt zu den großen Prosaautoren des 19. Jahrhunderts gehört. Sie führt zugleich mitten hinein in die aktuellen Restitutionsdebatten. Dem Rückblick auf die Grotte geht die Erzählung voran, wie die Reisenden gegen den heftigen Protest der Einheimischen "mehrere Schädel, ein Kinder-Skelett von 6 bis 7 Jahren und zwey Skelette von Erwachsenen aus dem Atures-Volke" entnehmen, um sie der europäischen Wissenschaft zuzuführen.

Alexander von Humboldt: Der Andere Kosmos. 70 Texte, 70 Orte - 70 Jahre. 1789-1859. Herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich. dtv, München 2019. 448 Seiten, 30 Euro.

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SZ vom 01.06.2019
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