Depeche Mode:Als sie in der DDR Lautsprecher klauten

'Depeche Mode'

Alan Wilder, Andy Fletcher, Dave Gahan und Martin Gore (von links) bei einer Pressekonferenz in Ost-Berlin im März 1988.

(Foto: picture-alliance/dpa/Ventil Verlag)

70 Fanklubs von Schwerin bis Suhl, eselsohrige "Bravo"-Poster und Ledergeschirr aus Klospülungsketten. Wie die unerfüllte Liebe zur Band "Depeche Mode" die Jugend des Ostens elektrisierte.

Von Ulrike Nimz

Am 27. April 1988 kam es an der S-Bahn-Haltestelle Ho-Chi-Minh-Straße in Leipzig zu einem Zwischenfall. Zwei junge Männer in Arbeitsanzügen stiegen auf eine Leiter und schraubten die Lautsprecher an den Bahnsteigen ab, klemmten die Trichter unter den Arm und spazierten davon. Die Mitarbeiter des Transportpolizeiamtes waren ratlos, die Staatssicherheit in Sorge: War dies ein Akt des Vandalismus oder eine subtile Form des Protests? Hatten da zwei Staatsfeinde zeigen wollen, dass sie nicht mehr bereit waren, zuzuhören?

Tatsächlich hatten die Diebe gerade erst angefangen zuzuhören. Und zwar einer Band aus Basildon, Essex. Das sechste Studio-Album von "Depeche Mode" hieß "Music for the Masses". Auf dem Cover prangten orangefarbene Lautsprecher. Auf der Tournee bespielte die Band die Stadien dieser Welt. Und hinter der Mauer, in der DDR, schlich die Jugend auf Bahnhöfe, um das zu stehlen, was einem Fanartikel am nächsten kam: Lautsprecher aus dem VEB Elektroakustik Leipzig.

Die DDR und Popmusik, das hätte eine traurige Geschichte werden können, über staatlich geprüfte Schallplattenunterhaltung und Bands mit Namen wie "Keks" oder "Juckreiz". Sascha Lange und Dennis Burmeister haben sich entschlossen, stattdessen eine Liebesgeschichte zu erzählen. In ihrem Buch "Behind the Wall" gehen sie der Frage nach, warum so viele Ostdeutsche einer Band huldigten, deren Leidenschaft für frostige Maschinenmelodien nur von der für fingerdickes Leder übertroffen wurde. Auf 230 Seiten erklären die Autoren ihre Jugend zum Forschungsgegenstand, tragen Fotos, Briefe und Anekdoten zusammen aus einer Zeit, als Musik zu groß war, um auf ein Handy zu passen.

Man scharte sich um koffergroße Kassettenrekorder wie um ein Lagerfeuer

Über 70 Depeche-Mode-Fanclubs entstanden in den Achtzigern in der DDR. Sie hießen Black Day, Black Masters, Black Town, Black Tulip, Black People. Es gab sie in Schwerin, in Annaberg-Buchholz, in Suhl. Man traf sich zu Partys und in den Trockenräumen der Plattenbauten, scharte sich um koffergroße Kassettenrekorder wie um ein Lagerfeuer. Aus den Boxen leierte "Little Fifteen", die Hymne aller führerscheinlosen Small-Town-Synthiepopper: "And if you could drive / you could drive her away / to a happier place / to a happier day" - könntest du fahren, brächtest du sie an einen glücklicheren Ort.

Wer als Fan das Pech hatte, auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs zu leben, musste nicht nur Wachstumsschmerzen ertragen, sondern auch die Gewissheit, dass die Liebe zu Dave Gahan, Martin Gore, Andrew Fletcher und Alan Wilder immer eine Fernbeziehung bleiben würde: Konzerte unerreichbar, Westplatten unbezahlbar. Wer es geschickt anstellte, bekam eselsohrige Poster aus dem "Schund- und Schmutz"-Heftchen Bravo in die Finger. Blieb noch das Outfit, um der Welt oder wenigstens den Omas auf der anderen Straßenseite zu zeigen, wie ernst man es meinte. Die Bauanleitung für ein Ledergeschirr à la Gore las sich so: Gürtel, Riemen, Klospülungsketten. Oder einfach die Hosenträger der Bereitschaftspolizei falsch herum tragen. Überliefert ist die Geschichte eines Fans, der seinen Vater überredete, Messing-Anhänger mit dem Logo "DM" zu fertigen, heimlich, in einer Waffenschmiede im Erzgebirge, in der auch die Kalaschnikow produziert wurde.

Dass es 30 Jahre später beim Lesen von "Behind the Wall" nicht staubt, ist Verdienst der Autoren und ihres Gespürs für Skurriles. Dass man sich inzwischen sogar anschauen kann, wie das damals war, ist der Verdienst von Detlef Bergmann.

Torsten, ein Fan

"Ehe ich meine Kassetten lösche, nehm' ich mir das Leben."

In den Achtzigern war er Leiter eines Zwickauer Jugendklubs. Auch im "Vaterland" kamen die Kids zu "Black Celebrations" zusammen. Der örtliche Depeche-Mode-Zirkel nannte sich "Great Fans". Bergmann ließ sich von der FDJ für 7000 Ostmark eine Kamera spendieren und drehte einen 45-minütigen "Videoreport", Titel: People are people. Darin folgt er seinen Schützlingen durch die Fußgängerzone, hinein in höhlenartige Jugendzimmer, fragt sie nach ihren Träumen. Ein Konzert, wie wäre das? Enrico, Schäferhut und Steigerjacke, sagt mit der Ernsthaftigkeit eines Nachrichtensprechers: "Ich tät' auf jeden Fall mitheulen." Kumpel Torsten, Haare wie ein Handfeger: "Ehe ich meine Kassetten lösche, nehm' ich mir das Leben."

Eine letzte Offensive im Kampf um die verlorene Jugend

Die "Great Fans" waren keine Rebellen, wollten weder das System kaputt machen, noch sich selbst. Wenn sie von "Demo" sprachen, war ausnahmslos die Band gemeint. Jeden Morgen schlurften sie in die Betriebe, halfen, Trabis zusammenzubauen, molken Kühe. Und Bergmann drehte. Der MDR hat nun eine Doku aus dem unveröffentlichten Material gemacht, Zeitgeschichte mit Bandgeschichte verwoben. Da ist der bizarre Depeche-Mode-Auftritt in der WDR-Musiksendung "Bananas": Dave Gahan, gekleidet wie ein Sparkassen-Azubi, bewegt die Lippen zu den Takten von "See you" und hat dabei ein Huhn auf dem Schoß. Da ist der Videodreh zur Single "Stripped": Von Kunstnebel umwabert, schlägt die Band mit einem Vorschlaghammer einen Lada zu Klump, direkt an der Mauer: "Let's get away just for one day", fort, nur für einen Tag. In Rostock, Karl-Marx-Stadt und Frankfurt (Oder) muss ihnen das wie eine Botschaft vorgekommen sein.

Als der MDR zur Preview von "Just can't get enough" ins Zeitgeschichtliche Forum nach Leipzig lädt, bleibt kein Platz frei. Auch Enrico und Torsten sind gekommen, in fröhlichem Schwarz. Das Haar ist lichter, die Zukunft auch. Sie wohnen nicht mehr in der Platte, aber legen hin und wieder noch welche auf. Auch Sascha Lange ist da; mit Brille und Bomberjacke sieht er nicht mehr aus wie Dave Gahan, sondern wie ein belesener Fußballhool. Er sagt: "Das Leben ist zu kurz für nur eine Lieblingsband."

Lange ist an diesem Abend als Zeitzeuge geladen, der Historiker hat Historisches erlebt: das einzige Depeche-Mode-Konzert im Osten. Am 7. März 1988 startete die DDR eine letzte Offensive im Kampf um die verlorene Jugend. Die Sensation wurde als FDJ-Geburtstag deklariert und geheim gehalten, man wollte nicht überrannt werden von schwarzen Massen. Ein Moderator des Jugendsenders DT64 verplapperte sich schließlich. 80 000 Anrufe später war klar: Es wird voll.

Um die Frage, wer wann wie reinkam in die Werner-Seelenbinder-Halle, ranken sich Mythen. Einer soll über Lüftungsschächte in die Halle gekrochen sein, ein anderer statt seines FDJ-Ordnungsgruppenausweis eine Monatskarte vorgezeigt haben. Sascha Lange schwänzte "Einführung in die sozialistische Produktion", zahlte das Fünfzehnfache seines Taschengeldes für eineinhalb Stunden Ekstase, die drei Jahrzehnte später ein Kapitel seines Buches einnehmen.

Es gibt einen Mitschnitt des Konzerts, man kann ihn sich bei Youtube anhören oder den Kopf unter den Wasserhahn stecken, so sehr rauscht es. Wer bis zu "Never let me down again" durchhält, gute Boxen und kein Herz aus Stein hat, kann die Mauer bröckeln hören, wenn 6500 Menschen singen: "See the stars, they're shining bright / Everything's alright tonight". Funkelnde Sterne. Und diese eine Nacht.

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