In Sergio Leones "Es war einmal in Amerika" gibt es eine Szene, die alles verrät, was das Wesen des Kinos ausmacht. Da linst ein kaum halbwüchsiger Kerl durch ein Guckloch auf die Tanzetüden eines bildschönen Mädchens, das umso mehr aufdreht, als es um die Anwesenheit des Voyeurs weiß. Später ersteht der Junge ein Sahnetörtchen für die Angebetete. Aber er kann der Versuchung nicht widerstehen und verputzt die Süßigkeit fast zur Gänze selber. Beide Szenen hat Düsseldorfs Ballettchef Demis Volpi in seine erste abendfüllende Bühnenpremiere "Geschlossene Spiele" eingebaut: als musikalisches und bildliches Zitat. Der Abend will, so lässt sich dieses Verweissystem deuten, den Kern der Tanzkunst anbohren - gerade so, wie Sergio Leone einst das Kino als voyeuristische Veranstaltung entlarvte und verklärte. Aber weil Volpi mit mehr Einfallsreichtum als Eindringlichkeit operiert, entfaltet seine Choreografie kaleidoskopische Qualitäten statt tieferer Einsichten.
Die Vorlage stammt von Julio Cortázar, einem der großen argentinischen Erzähler des magischen Realismus
Allerdings muss man dem 35-Jährigen zugute halten, dass er beim Ballett am Rhein in große Fußstapfen tritt. Mehr als ein Jahrzehnt lang hat Martin Schläpfer das Publikum der Region mit einer Mischung aus klassischer Moderne und zeitgenössischem Ballett verwöhnt und herausgefordert. Auch deshalb mag sich der in Argentinien geborene Volpi entschieden haben, das erste Live-Event nach der coronaverhagelten Startspielzeit nicht mit puristischem Tanz zu bestücken. Stattdessen hat er ein Stück aus Argentinien, Julio Cortázars Schauspiel "Geschlossene Spiele", in Tanztheater verwandelt, was freilich auch kein fallstrickfreies Unterfangen ist. Denn der 1984 verstorbene Autor gehört gemeinsam mit Jorge Luis Borges zu den großen Erzählern des magischen Realismus: Restbestände der Wirklichkeit werden in fantastische Kokons eingesponnen. Die choreografische Übersetzung mündet in eine surrealistische Gratwanderung, die den Begriff des Handlungsballetts zum Absturz bringt.
Fünfzehn Figuren spült das Schicksal an den Ort des Geschehens, ein ziemlich abgewracktes Lokal in Buenos Aires. Heike Scheele hat eine nach hinten spitz zulaufende Dreiecksbühne gebaut und Fünfzigerjahre-Mobiliar hineingestellt. Hier langweilen sich zu Anfang ein weißgewandeter Gast und eine Tresenkraft, während Julio Cortázars Konterfei von der Wand aus ins Publikum starrt. Bald aber wippen Moustaches und Coiffuren à la Rudolph Moshammer an Tango tanzenden Kellnern, macht ein geköpftes Huhn den sterbenden Schwan, und eine kaugummikauende Ballerina im Dolly-Parton-Look packt die Spitzenschuhe aus. Die Superblondine legt die gleiche "Amapola"-Nummer aufs Kneipenparkett, die Sergio Leone einst für sein Amerika-Epos inszeniert hat. Nur betätigt sich hier Cortázars heimliche Hauptfigur als Voyeur: der Richter, der soeben ein Todesurteil gesprochen hat und - Militärdiktatur hin oder her - auch nur ein neurosengeplagtes Männlein ist. Ein Scheinriese der Macht, den die mehr oder weniger fröhlichen Zecher ringsum systematisch in die Enge treiben.
Volpis zupackende Tanzsprache findet für jeden Charakter die passende Tonalität, vom süßlichen Ballerinenschmelz bis zur diabolischen Rhetorik des undurchsichtigen Meisters in Weiß. Trotzdem wirken diese "Geschlossenen Spiele" seltsam aseptisch und aus der Gegenwart gefallen. Als liege der Mehltau einer Vergangenheit über ihnen, in der die Düsseldorfer Königsallee noch eine echte Luxusmeile war und Wohlstand ein elitäres Privileg. Leicht patiniertes Tanztheater also, das Luft nach oben lässt. Demis Volpi wird sie hoffentlich zu nutzen wissen.