Dem IS-Terror entronnene Jesidin:"Ich schätze Deutschland sehr für seine Menschlichkeit"

Jesidin auf der Flucht

Shirin (Pseudonym) beschreibt in ihrem Buch "Ich bleibe eine Tochter des Lichts" ihre Gefangenschaft und Flucht aus den Händen der IS-Terroristen.

(Foto: Europa Verlag Berlin)

Die 17-jährige Shirin wurde in ihrem nordirakischen Heimatdorf von IS-Terroristen entführt und als Sex-Sklavin verkauft. Sie konnte fliehen, lebt nun in Deutschland und hat ein eindrucksvolles Buch über ihr Martyrium geschrieben.

Interview von Ruth Schneeberger

Shirin war 17 Jahre alt, jungfräulich, ein bisschen vorlaut und sehr lebenslustig. Sie hatte einen jungen Mann kennengelernt, wollte Jura studieren und ein eigenständiges Leben führen. Da überfielen IS-Terroristen das Dorf in ihrer nordirakischen Heimat, verschleppten die Frauen und töteten viele Männer. Seit August 2014 wurde Shirin, die aus Angst um ihre Familie unter Pseudonym berichtet, an neun Männer als Sex-Sklavin verkauft, vergewaltigt, verprügelt und immer wieder zutiefst gedemütigt.

Mithilfe ihres letzten "Ehemannes" konnte sie fliehen und lebt nun in Deutschland an einem geheimen Ort. Im Rahmen eines Hilfsprojektes hat sie zusammen mit der Journalistin Alexandra Cavelius und dem Traumatologen Jan Kizilhan ein Buch über ihr Martyrium geschrieben, das gerade im Europa-Verlag Berlin erschienen ist: "Ich bleibe eine Tochter des Lichts". Im Interview spricht sie darüber, wie sich ihr Leben jetzt anfühlt.

SZ: Fühlen Sie sich in Deutschland inzwischen sicher?

Shirin: Ganz sicher fühle ich mich noch nicht. Ich habe Angst, dass solche Anschläge wie in Paris auch hier passieren könnten. Aber ich schätze dieses Land sehr. Hier hat der Mensch einen Wert. Der Mensch hat eine Stimme. Es wird kein Unterschied zwischen den Religionen gemacht. Ich schätze Deutschland sehr für seine Menschlichkeit.

Sie haben Höllenqualen erlebt in der Hand der Terroristen. Was hat Sie während Ihrer Gefangenschaft am meisten belastet?

Immer wenn ich gedacht habe, dass es nicht schlimmer werden könnte, wurde es noch schlimmer. Unerträglich aber war die ständige Sorge um meine Mutter und meine Geschwister. Immer dieser Gedanke: Leben sie noch? Sind sie noch da, wenn ich das nächste Mal an ihre Tür klopfe?

Sie berichten davon, dass Sie versucht haben, sich umzubringen, um den Vergewaltigungen zu entkommen. Für eine Jesidin, schreiben Sie, ist es schlimmer, vergewaltigt als abgeschlachtet zu werden. Wie kommen Sie heute damit zurecht, was Ihnen passiert ist in dieser Zeit? Bekommen Sie Hilfe? Kann es überhaupt Hilfe geben?

Jeden Morgen wache ich mit Albträumen auf. Mein Unterleib schmerzt. Psychotherapeutische Hilfe haben wir bis heute nicht bekommen. Diese IS-Kämpfer haben uns etwas weggenommen, was man uns nie wieder zurückgeben kann. Meine Heimat ist zerstört. Mein Vater versucht, in einem Flüchtlingslager zu überleben. Meine Mutter haben sie nach Syrien verschleppt. Meine kleine Schwester haben sie ihr entrissen. Sie ist neun Jahre alt. Meine ältere Schwester haben sie nach Mossul entführt. Der Kontakt mit ihr ist abgerissen. Ich glaube nicht, dass ich meine Schwestern jemals wiedersehen werde.

Gibt es aus Ihrer Sicht eine Möglichkeit, den IS zu stoppen?

Die Weltgemeinschaft müsste sich zu einer gebündelten Kraft zusammenschließen, um den IS zu bekämpfen. Dann wäre es möglich, diese Barbaren zu stoppen.

Was möchten Sie den Deutschen und dem Rest der Welt über den IS berichten, welche Botschaft ist Ihnen wichtig?

Kinder werden von ihnen zu Soldaten ausgebildet, die nach der Gehirnwäsche in der Lage sind, ihre eigenen Mütter zu töten. Tausende von Mädchen und Frauen sind noch in den Händen der IS-Terroristen. Ich wünschte, dass die Welt nicht weiter wegsieht und all diesen Menschen hilft. Wenn diese Mörder nicht aufgehalten werden, breiten sie sich immer mehr aus.

"Das sind Menschen, die schnell manipulierbar sind"

Sie haben gehört, wie die Kämpfer sich mit den Mordanschlägen auf die Pariser Redaktion von Charlie Hebdo rühmten. Sie haben aber auch einen Mann erlebt, der Ihnen geholfen hat und nur nach außen ein IS-Kämpfer war. Was macht Ihrer Meinung nach den Unterschied aus, warum sich manche dieser Ideologie ganz und gar verschreiben?

Das sind Menschen, die schnell manipulierbar sind. Das sind Menschen, die verblendet sind. Sie glauben, dass sie im Namen Gottes töten dürfen. Das hat aus meiner Sicht aber nichts mit Religion zu tun.

Sie berichten in Ihrem Buch, dass Ihr Dorflehrer Sie verraten und an Ihre Peiniger ausgeliefert hat. Wie erklären Sie sich, dass sogar Ihre Nachbarn sich gegen Sie und hinter den IS gestellt haben - mit allen bekannten Folgen?

Die Sunniten haben sich im Irak benachteiligt gefühlt, weil sie zu wenig an der Macht der Schiiten beteiligt worden sind. Mir kommt es aber so vor, dass sie nur darauf gewartet haben, uns Jesiden anzugreifen, weil sie die jesidische Religion auch vorher nie anerkannt haben. Das ist der 74. Genozid an unserem Volk. Trotzdem verurteile ich nicht deren Religion. Überall gibt es gute und schlechte Menschen.

Glauben Sie, dass Sie jemals über diese Ereignisse hinwegkommen werden?

Nein.

Wie gelingt es Ihnen, trotzdem weiter an das Gute im Menschen zu glauben?

Sie haben versucht, mir meinen Glauben zu nehmen, aber mein Glaube an Gott ist stärker denn je zuvor. In unserer Religion verkörpert Gott das Gute, er ist allmächtig und einzig.

Gibt es eine Möglichkeit, Ihre Familie zu retten?

Es gibt eine jesidische Organisation, die heimlich versucht, die Menschen zu retten. Die IS-Terroristen geben Gefangene auch teilweise gegen Lösegeld frei. Ich weiß nicht, wie wir so viel Geld bezahlen könnten. Bislang hat aber auch noch niemand mit uns Kontakt aufgenommen. Ich hoffe so sehr, dass ich meine Mutter bald wiedersehen werde.

Sie wollten Jura studieren, eine unabhängige Frau sein. Wie sehen Sie jetzt Ihre Zukunft?

Ich denke nur noch an das, was am nächsten Morgen nach dem Aufstehen auf mich zukommt. Erst wenn ich meine Mutter wieder in die Arme schließen kann, werde ich es schaffen, weiter zu denken als bis zum nächsten Tag. Erst dann habe ich wieder eine Zukunft. Wo meine Mutter ist, da ist auch meine Heimat.

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