Genter Altar:Das geraubte Wunder von Flandern

Forscher entschlüsselt 'Genter Altar'

Die Festtagsseite des Genter Altars mit den aufgeschlagenen Flügeln. Die Tafel ganz links unten ist gestohlen.

(Foto: Schröer/dpa)

Geklaut, verscherbelt, verschollen: Über die bewegte Geschichte des einzigartigen Genter Altars, für den sich auch Napoleon und die Nazis interessiert haben.

Von Gottfried Knapp

Kein Hauptwerk der europäischen Malerei ist so oft geteilt und verschleppt worden wie der von Jan van Eyck gemalte, im Jahr 1432 aufgestellte Genter Altar, den Dürer auf seiner Niederland-Reise als ein "überköstlich hochverständig Gemäl" gefeiert hat. Heute dürfte man dem Werk selbst mit dem Superlativ "das größte und bedeutendste Kunstwerk der altniederländischen Malerei" nicht mehr ganz gerecht werden.

Schon während der Glaubenskriege im 16. Jahrhundert ist der aus zwölf riesigen, teilweise doppelseitig bemalten Einzeltafeln zusammengesetzte Flügelaltar zweimal aus der Seitenkapelle der Genter St.-Bavo-Kathedrale entfernt und erst nach einigen Jahren am Ursprungsort wieder aufgestellt worden. Napoleon war dann der erste Mächtige, der den Mittelteil des Altars aus Belgien entführen ließ. Nach Waterloo aber musste Frankreich die Tafeln wieder nach Gent zurückgeben.

Versteck in einem österreichischen Bergwerk

Doch dort konnten sie mit den Seitenflügeln nicht wiedervereint werden, weil die Kirchengemeinde in der Zwischenzeit diese Tafeln zu einem lächerlichen Preis an einen Schnäppchenjäger verkauft hatte. Dieser Herr wiederum verschacherte die Flügel an einen Engländer, dem es gelang, die Tafeln zum höchst stattlichen Preis nach Berlin weiterzuverkaufen, wo sie als Meisterstücke der nordischen Malerei in dem von Schinkel eben errichteten Alten Museum ausgestellt wurden.

Fast ein ganzes Jahrhundert lang konnten die Berliner Museen mit den Flügeln des Genter Altars prunken. Doch nach dem Ersten Weltkrieg musste Deutschland die acht Gemälde im Rahmen der Reparationen nach Gent zurückgeben.

Durch diese nach der Haager Kriegskonvention juristisch unberechtigte Forderung sahen sich die Nazis zu einem bösartigen Racheakt berechtigt: Unter Anleitung des Kunsthistorikers Ernst Buchner haben sie den im Schloss Pau in Südfrankreich versteckten Altar rauben und anschließend im Salzbergwerk von Altaussee wegsperren lassen. Wie er dort nach dem Krieg von Amerikanern wiederentdeckt und der Welt zurückgegeben wurde, war in dem Spielfilm "Monuments Men" melodramatisch zu erleben.

Dass nach diesen schaurigen Odysseen die so oft schon getrennten Tafeln endlich am Originalschauplatz in der Seitenkapelle von St. Bavo wiedervereint wurden, war irgendwie selbstverständlich. Doch dort blieb den Besuchern immer ein beträchtlicher Teil des Kunstwerks verborgen, weil man die Flügel ja nicht ständig öffnen und wieder schließen konnte.

Darum hat man den Altar in die Kapelle unter dem Nordturm der Kirche verpflanzt und dort bei künstlichem Licht in einer Panzerglasvitrine so aufgestellt, dass die Festtagsseite mit den geöffneten Flügeln als Einheit zu erleben ist, die beiden abgetrennten Vorderseiten der Flügel aber daneben betrachtet werden können.

So abenteuerlich sich die Geschichte des Genter Altars auch anhören mag, für die samstägliche "Geheimnis"-Seite hat sich das Hauptwerk des Jan van Eyck aber vor allem deshalb angeboten, weil im Jahr 1934 eine der beidseitig bemalten Tafeln geklaut worden ist und weil von den Gemälden, die auf der Vorder- und der Rückseite zu sehen waren, nach missglückten Lösegeldverhandlungen nur die abgesägte eine Seite in einem Schließfach wieder aufgefunden werden konnte. Die für die Festtagsseite aber so wesentliche andere Seite ist bis heute verschollen. Im Altar ist sie seither durch eine Kopie ersetzt.

Die Diebe haben die auf der Festtagsseite am weitesten links gelegene Tafel der unteren Zone abmontiert. Wenn der linke Flügel zugeklappt war, zeigte diese Tafel die in Grisaille, also quasi schwarz-weiß gemalte Illusion einer Steinskulptur des Täufers Johannes, ein malerisches Kabinettstück, das mit Licht und Schatten ein plastisches Bildwerk simuliert.

Ganz anders das verschollene farbige Gemälde der Festtagsseite, das quasi auf den Rücken des Täufer-Bilds gemalt war: Dieses Stück ist unverzichtbarer Bestandteil der großen Komposition "Anbetung des Lammes", die sich in der unteren Zone von der großen Mitteltafel aus nach beiden Seiten über die Flügel erstreckt und durch eine im Hintergrund durchlaufende Landschaft zusammengehalten wird.

Wie Jan van Eyck die in der Offenbarung des Johannes geschilderte Vision - Menschen aller Erdteile beten das Gotteslamm an - ins Bild gesetzt und die undankbare Aufgabe gemeistert hat, Massen von Menschen zu zeigen, die alle in die gleiche Richtung blicken, kann man nur als genial bezeichnen. Die zentrale Achse der Szenerie wird vom Altar, auf dem das Lamm sein Blut in einen Kelch ergießt, und vom achteckigen Brunnen des Lebens gebildet.

Rechts und links davon sind die Gruppen der Märtyrer, der Heiligen Jungfrauen, der Propheten, Patriarchen, Apostel und Hirten der Kirche in der grünen Landschaft hintereinander gestaffelt. Und auf den Seitenflügeln nähern sich die gerechten Richter und die Streiter Christi sowie die heiligen Eremiten und Pilger dem Geschehen auf der Mitteltafel.

Leider teilten die Diebe den Geschmack der meisten Menschen

Dürfte man sich eine dieser Außentafeln für zu Hause aussuchen, würden sich die meisten Menschen wohl für die "Gerechten Richter" entscheiden. Leider hatten auch die Diebe den gleichen Geschmack. Und so muss die Menschheit weiterhin auf das prachtvolle Original mit diesem Titel verzichten.

Auf diesem extrem schmalen Hochformat hat van Eyck eine Gruppe festlich gekleideter, teilweise berittener Herren kunstvoll hinter- und übereinander gestaffelt. Würde es noch eines Beweises für den einsamen Rang dieses Altarwerks bedürfen, müsste man sich nur in die wunderbar lebendigen Gesichter dieser Figuren vertiefen; sie können ganze Lebensgeschichten erzählen.

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