Alben der Woche:"Der hat's von Tinder und die haben's von Gott"

"Deichkind" haben den klügsten deutschen Popsong der Welt geschrieben, David Hasselhoff ein Album wie ein Glücksspielautomat. Sido macht richtig guten Midlife-Crisis-Rap. Noel Gallagher nicht.

1 / 8

rRoxymore - "Face To Phase" (Don't Be Afraid Records)

Face to Phase

Quelle: Don't be afraid

Das Debütalbum der Woche kommt von Hermione Frank, einer Französin aus Montpellier, die in Berlin lebt. Unter dem Namen rRoxymore - nur echt mit kleinem r vorne und großem R danach! - spielt sie eklektische DJ-Sets und produziert intrikate elektronische Tracks. Schon ihre Remixe für Planningtorock und The Knife ließen aufhorchen, ihr Album "Face To Phase" (Don't Be Afraid Records) enthält tollen Techno ohne jegliches Funktionalitätsdiktat. Die Breaks sind interessant quer gesetzt, und die Melodien könnten Hooklines sein, scheinen aber nie ganz identisch wiederzukehren. Allein der Voodoo-House-Track "Forward Flamingo" ist grandios: Seine Bassdrum scheint durch einen düsteren Dschungel voller gefährlicher Tiere zu schreiten, und ja, wie weit sind eigentlich uralte okkulte Praktiken wie Voodoo entfernt von modernen elektronischen Dancefloor-Zeremonien? Nicht alles erschließt sich hier sofort, aber die Beine wollen mit.

Jan Kedves

2 / 8

Noel Gallagher's High Flying Birds - "This Is The Place" (Sour Mash)

Noel

Quelle: Sour Mash / Indigo

Eine Woche ist es her, dass Liam Gallagher sein neues, durchwachsenes Soloalbum "Why Me? Why Not." veröffentlichte. Bruder Noel Gallagher liefert diese Woche mit seinen High Flying Birds eine neue, durchwachsene EP: "This Is The Place" (Sour Mash). Auf ihr frönt der frühere Oasis-Chef-Songschreiber seiner Faszination für Spiralpupillen-Rave-Rock, wie er 1989/1990, also zu Zeiten des zweiten "Summer of Love" in Großbritannien von Pillenfreunden wie den Happy Mondays oder den Soup Dragons gespielt wurde. Nette Idee. Aber aus "Evil Flower" kann selbst der Londoner Remix-Maestro The Reflex keinen guten Song mehr zaubern. Und im Titelstück singt Noel fast wie Chris Martin von Coldplay. Herrje.

Jan Kedves

3 / 8

Tegan And Sara - "Hey I'm Just Like You" (Warner)

Tegan and Sara

Quelle: Sire Records

Die Zwillinge Tegan And Sara, Nachname Quin, haben gerade ihre Autobiografie "High School" veröffentlicht. In der erzählen sie, wie es war, als eineiiges lesbisches Schwesternpaar durch die Teenagerzeit zu gehen und dann das Musikmachen, genauer: Indie-Pop und Indie-Rock, als Ventil für sich zu entdecken. In Deutschland sind die beiden bislang ja noch nicht so richtig bekannt geworden, auch wenn sie von Neil Young protegiert wurden, längst über eine Million Alben verkauft haben, für einen Grammy nominiert waren und so weiter. Parallel zum Buch erscheint auch ein neues Album, "Hey I'm Just Like You" (Warner). Auf dem nehmen sich die beiden mit 39 noch einmal Songs vor, die sie als Teenagerinnen schrieben und die dann 20 Jahre lang irgendwo auf einer Kassette verstaubten. Wie das eben so ist, wenn man noch einmal nachhört, was man früher für einen cleveren Reim hielt: "I needed a place to rest my head, needed a place to make my bed" (im Song "Please Help Me"). Aber diese totale, ungebrochene Ehrlichkeit der High-School-Tagebuch-Lyrik ist natürlich auch immer wieder ganz rührend. Und wenn dann das Endorphin-Überschwangs-Songwriting hinzukommt, auf das die beiden sich doch sehr verstehen, kann man eigentlich gar nicht anders, als gute Laune zu bekommen. Obwohl das beschriebene Leben, damals, ja eher die Hölle war.

Jan Kedves

4 / 8

Sido - "Ich & keine Maske" (Universal)

Sido

Quelle: Universal Music

Ach, Midlife-Crisis-Rap kann schon der allerbeste Rap sein. Wenn er nämlich diese Schizophrenie zu fassen bekommt, wie es ist, wenn man im Leben mit nostalgischem Auge auf all die Exzesse, Brutalitäten und Besinnungslosigkeiten der Jugend zurückblickt, gleichzeitig aber auch feiert, dass aus dem früheren Ghetto-Prinzen und "Arschfickmann" inzwischen ein liebevoll-fürsorglicher Familienvater geworden ist, der im Speckgürtel von Berlin seine Söhne ins Bett bringt und ihnen geduldig ihre tausend kleinen Kinderfragen beantwortet ("Papa, wenn man den Himmel dreht, ist man dann über dem Regen?"). Genauso ist es auf Sidos unterhaltsamem achten Album "Ich & keine Maske" (Universal). Paul Hartmut Würdig schreibt jetzt, kurz vor 40, ergreifende Nüchternheits-Appelle wie "Melatonin". Im deutschen Rap hat es wohl noch keinen Song gegeben, der das Abrutschen aus einem lustig polytoxikomanen Partyleben in die Brutalität der Alkoholsucht so schonungslos beschreibt. Andererseits denkt sich Sido aber auch: Tempus fugit? Tempus fuck it! - und will in der superpoppigen Single "Leben vor dem Tod" mit Sänger Monchi von Feine Sahne Fischfilet noch einmal so richtig aufdrehen. "Ich mein', das Leben ist nicht immer falsch und richtig, aber gar nicht leben ist so richtig falsch, verstehste?"

Jan Kedves

5 / 8

Deichkind - "Wer sagt denn das?" (Sultan Günther Music)

Deichkind - "Wer sagt denn das?" (Sultan Günther Music)

Quelle: Sultan Günther Music

Der Titelsong des neuen Deichkind-Albums "Wer sagt denn das?" ist - darunter geht es leider nicht - der cleverste Popmusiksong, der in deutscher Sprache je geschrieben wurde. Der Band gelang mit ihm das Unmögliche: einen großen kritischen Popsong zu machen aus dem kaputten Karma dieses Landes, aus Rechtsruck und Fake-News-Hysterie, aus Verunsicherung, Verrohung, Spaltung und so weiter. Einen Song also, in dem das alles drin ist und der trotzdem keine öde Ode gegen das Böse und für die Guten ist. Eher schon bringt er es fertig, dass man als Hörer am Nasenring der eigenen Selbstgerechtigkeit in die Moshpit-Manege springt. Wer sagt denn das? "Alexa und Siri, die Cloud und dein Boss / Die stille Post und die Stimmen in deinem Kopf / Der Guru, die Trainer, der TÜV und der Mob / Der hat's von Tinder und die haben's von Gott". Und der Rest des Albums ist auch meistens noch verrückt geglückt.

Jens-Christian Rabe

6 / 8

David Hasselhoff - "Open Your Eyes" (Sony Music)

David Hasselhoff - "Open Your Eyes" (Sony Music)

Quelle: Sony Music

Ein Album nach dem Prinzip eines Glücksspielautomaten: Hasselhoff covert Songs aus seiner Shuffle-Playlist weg, viele davon mit New-Wave-Einschlag. Konsequenterweise hat er auch bei der Wahl seiner Features und Produzenten den Zufall walten lassen und erstaunlich namhafte Treffer gelandet, wodurch etwa folgende Kombination entsteht: Neil Diamonds "Sweet Caroline" im Cover mit Ministry-Industrial-Metaller Al Jourgensen, fürchterlich abgemischte Acid-Bässe und allerlei Geplucker, das Hasselhoffs Stimme in einem durchaus interessanten Brei versinken lässt. Das könnte so auch in einem Neuköllner Keller für dekonstruierte Clubmusik laufen - bis der Schlageruffz-Refrain reinbrettert, als würde der Keller vom Team des ZDF Fernsehgarten gestürmt. Desweiteren: Ein grausiges Udo-Jürgens-Cover, eine Version des eigentlich wunderschönen "I Melt With You", spätestens im Refrain durch die Wichsriffs des Billy-Idol-Gitarristen Steven Stevens für immer zerstört. Und "Lips Like Sugar" von Echo & The Bunnymen, eingespielt mit A Flock Of Seagulls - ironiefrei und ungelogen besser als das Original.

Quentin Lichtblau

7 / 8

Sturgill Simpson - "Sound & Fury"

-

Quelle: AP

Wenn Musiker auf einen großen Erfolg ein "Ihr könnt mich alle mal!"-Album folgen lassen, geht das meist in diese Hose. Hier nicht. Sturgill Simpson bekam 2017 für "A Sailor's Guide To Earth" den Grammy für das "Best Country Album". Aber im Jahr 2019, in dem Lil Nas X mit seinem Country-Trap-Hit "Old Town Road" den Billboard-Nummer-1-Rekord gebrochen hat und Country-inspirierte Musik auch sonst beste Hit-Chancen hat - siehe "Nothing Breaks Like A Heart" von Mark Ronson und Miley Cyrus -, hat Simpson erst mal keinen Bock mehr auf Country. Stattdessen gibt es auf "Sound & Fury", dem tollen neuen Album des 41-jährigen Sängers aus Jackson, Kentucky, eine wild fackelnde, röhrende, übersteuerte Mischung aus Synth-Dance-Rock à la ZZ Top und Glam-Momenten. Aus "Sing Along" könnte man den "Monstertruckdriver" des Berliner Schaffeltechno-Rabauken T.Raumschmiere als Inspiration heraushören. Und wenn Kraftwerk immer noch Lust auf Gerichtstermine haben, könnten sie wohl auf die Feststellung einer melodiösen Ähnlichkeit zwischen "Mercury In Retrograde" und "Autobahn" klagen. Alles nur um zu sagen: Country-Musik im klassischen Sinne ist das nun wirklich nicht mehr. Dafür aber die mitreißende Selbstbefreiung eines Mannes, dem es zu wenig ist, auf ein Genre festgelegt zu werden.

Jan Kedves

8 / 8

John Coltrane - "Blue World" (Impulse/Universal Music)

John Coltrane - „Blue World“ (Impulse/Universal Music)

Quelle: Impulse (Universal Music)

John Coltrane - „Blue World“ (Impulse/Universal Music)

Nur einmal in seinem Leben hat der legendäre Jazzsaxofonist John Coltrane Filmmusik aufgenommen. 1964 war das, als er mit seinem Quartett für den jungen kanadischen Regisseur Gilles Groulx ins Studio ging. "Le chat dans le sac" hieß der Nouvelle-Vague-Film, der ähnlich schnell vergessen war wie Coltranes Aufnahmen, die seither im Archiv des Film Board of Canada lagerten. Vergangenes Jahr kamen sie dann in den Besitz von Coltranes Plattenfirma Impulse - und erscheinen mit dem Titel "Blue World" (Impulse/Universal Music) nun als Album. Und ja, es ist ein richtiges Coltrane-Album, noch dazu mit seinem wohl besten Quartett, in dem McCoy Tyner Klavier spielte, Jimmy Garrison Bass und Elvin Jones Schlagzeug. Ein paar Monate später sollten sie "Crescent" aufnehmen und im Dezember "A Love Supreme", das bis heute als einer der Höhe- und Wendepunkte des Modern Jazz gilt. Ein wenig kann man den Wandel auf dem Soundtrack schon ahnen. Auch wenn die Aufregung nicht ganz so groß ausfallen dürfte wie vergangenes Jahr, als das im Familienbesitz verschollene Coltrane-Album "Both Directions At Once" erstmals herauskam. Neues Material hatte Coltrane jedenfalls nicht geschrieben für den Film. Es gibt neue Fassungen seiner herzzerreißenden Ballade "Naima", von "Traneing In", "Like Sonny", dem "Village Blues" und hinter dem Titelstück des Albums verbirgt sich eine etwas freiere Version von "Out Of This World", einem Popsong aus den Vierzigerjahren, den er zwei Jahre zuvor für sein Album "Coltrane" eingespielt hatte. Als Album aus der Mittelphase von John Coltrane ist "Blue World" aber durchaus auch für Nicht-Jazzhörer zugänglich und ein Erlebnis. Vor allem aber beweist die Session: bei John Coltrane gab es keine Routine.

Andrian Kreye

© sz.de/biaz
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: