"Deichkind" auf Tour:Lizenz zum Ausklinken

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Ist das noch Musik oder eher maximalistisch-debiles Performancetheater? "Deichkind" singen Arbeiterlieder für das postindustrielle Zeitalter. Mit Songs wie "Bück dich hoch" oder "Leider geil" schaffen sie damit geradezu Meisterwerke der Dialektik zwischen Gegröle und Neon-Techno.

Jan Kedves

Man muss aufpassen, Deichkind nicht allzu leichtfertig für all das verantwortlich zu machen: die Eskalation des deutschen Pops, den zunehmenden Theater- und Zirkuscharakter dessen, was früher schlicht "Popkonzert" genannt wurde, und die um sich greifende Sloganisierung der deutschen Alltagssprache. Dabei würde all das sehr leicht fallen.

Deichkind-Konzert: In der Epoche der immateriellen Kreativarbeit und des Selbstoptimierungsdrucks lauten die Stichworte der Hamburger Hip-Hop- und Electro-Formation: Aerobic, Sonnenbank, digitale Vernetzung. (Foto: dpa)

Nichts schiene zum Beispiel naheliegender, als in Deichkind die alleinigen Urheber des böllernden Mischung aus Rap, Electro und House zu erkennen, der momentan allerorten die Charts beherrscht, und auf den sich in Deutschland nicht nur die ballermanntauglichen Berliner Atzen ("Hey, was geht ab!? Wir feiern die ganze Nacht!") einigen können, sondern auch sämtliche Acts des explizit antideutschen Labels Audiolith - heißen sie nun Egotronic oder Frittenbude.

Als die Band 2006 mit ihrem Song "Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)" die alten Hip-Hop-Beats gegen geradeaus stampfende Bassdrums tauschten, war das noch etwas völlig Neues. Auch amerikanische Rapper hatten noch nicht mit David Guetta zusammengearbeitet. Genauso gut könnte man Deichkind als großartige Sprachschöpfer bezeichnen: Slogans wie "Krawall und Remmidemmi", "Aufstand im Schlaraffenland" oder "Arbeit nervt" sind im Grunde sofort in den allgemeinen Wortschatz übergegangen. Jüngstes Beispiel: Der Titel ihres neuen, Anfang Februar erschienenen Albums "Befehl von ganz unten" hat so schnell gegriffen, dass der Stern bereits am 15. Februar meldete: "Christian Lindner: Comeback von ganz unten".

Am Donnerstagabend um 20 Uhr starteten Deichkind nun ihre "Befehl von ganz unten"-Tour in der Stadthalle Rostock - eine Ortswahl, die nicht erstaunte. Die Band stammt zwar aus Hamburg, doch wie jede andere würden auch sie die Premiere einer neuen Show niemals in ihre eigene Heimatstadt legen, aus Angst vor der Blamage. So lassen sich bis zu den wirklich wichtigen Terminen in den Metropolen und daheim noch Schwächen ausbügeln. Selbst wenn Deichkind in ihren Songs also regelmäßig Leistungsdruck und Selbstoptimierungszwang persiflieren: In diesem Punkt sind sie selbst Perfektionisten.

Kindergärtner, Kreativarbeiter, Fitnessstudiogänger, Sonnenbänkler

Ihre Versuchskaninchen waren in Rostock einige tausend feierwütige Mecklenburger zwischen 8 und 45, nach Provinz sahen sie alle aber nicht aus, eher wie ganz normale Kindergärtner, Kreativarbeiter, Fitnessstudiogänger und Sonnenbänkler. Und alle hatten schon ordentlich vorgeglüht. Als vor dem Konzert in der Schlange draußen eine Studentin zu ihrer Clique sagt: "Ach Mist, heute hätte ich mal wieder meine lila Hose anziehen können!", bringt sie damit das, was Deichkind ausmacht, schon recht gut auf den Punkt: Hier darf jeder alles, was er sich sonst nicht traut. Deichkind verkaufen, wenn man so will, die Lizenz zum temporären Ausklinken.

Faszinierender ist jedoch, wie sie es seit "Krawall und Remmidemmi" geschafft haben, alles, was ihre Musik zuvor hip-hop-konform machte - Subjektivität, Selbstanpreisung, Coolness - komplett zu vergessen und fortan beinahe selbstlos nur noch die Bedürfnisse und Gefühlslagen ihres Publikums zu spiegeln - aber damit ein noch größeres Publikum zu erreichen.

Wir sprechen von einem Publikum, das tagsüber in unterbezahlten Angestelltenverhältnissen und allzu unverbindlichen Agentursituationen sitzt und das nach Arbeiterliedern für ihr postindustrielles Zeitalter dürstet. Tatsächlich könnte man sagen, dass Deichkind mit "Befehl von ganz unten" genau dies leisten, und dabei sogar noch eine Reflexionsebene eingezogen haben, die es vorher gar nicht gegeben zu haben schien: Erteilten sie in "Remmidemmi" (2006) und "Arbeit nervt!" (2008) noch mehr oder weniger eindimensionale Absagen an Disziplin und Lohnerwerb, sind ihre neuen Stücke wie "Bück dich hoch" oder "Leider geil" geradezu Meisterwerke der Dialektik.

In letzterem Stück geht es um so etwas wie die positive Umwertung der täglich erlebten Lähmung, die sich aus der Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Handeln ergibt: die neu gekauften Turnschuhe, von denen wir alle wissen, dass sie von Kindern in Bangladesch zusammengenäht wurden - leider geil. Selbstausbeutung - leider geil. Und wenn in "Bück dich hoch", der Hymne für alle Jobber mit Abstiegsängsten, das Wort "Bruttosozialprodukt" fällt, kann das kaum Zufall sein.

Disco-Rave-Höhensonne in Regebogenfarben

Dieses Wort ließ sich bislang nur ein einziges Mal schlüssig im deutschen Pop unterbringen, 1983 bei Geier Sturzflug: "Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt!" Damals mochte zwar schon das postindustrielle Zeitalter gedämmert haben, doch bei Geier Sturzflug ging es noch ganz fordistisch um "Werksirenen" und "Stechuhren". Heute, in der Epoche der immateriellen Kreativarbeit, der allgemeinen Prekarisierung und des damit einhergehenden Selbstoptimierungsdrucks, lauten die Deichkind-Stichworte: Aerobic, Sonnenbank, digitale Vernetzung. Die Show dazu spielt sich dann zwischen acht großen, verschiebbaren, mit Silberganzfolie bezogenen Säulenpodesten ab. Die Spielbedingungen ändern sich bei jedem Stück, sodass man sich "Befehl von ganz unten" live insgesamt als maximalistisch-debiles Performancetheater vorstellen muss.

Höhepunkt ist keineswegs der Moment, in dem Deichkind zum Song "Papillon" eine Cheerleading-Choreographie aufführen, während sie vor ihren Köpfen weiße Reflektorregenschirme auf und zu spannen, was sie aussehen lässt wie Quallen unter Wasser. Es ist auch nicht der Moment, in dem sie auf der Bühne Aerobic turnen, als wollten sie ihre stolz herausgehängten Bierwampen abtrainieren, wobei diese dann natürlich besonders schön wackeln.

Nein, Höhepunkt der Inszenierung ist jene Sekunde, in der die Band eine voll funktionstüchtige Sonnenbank auf die Bühne schieben, nicht ultraviolett leuchtend, sondern bestückt mit blinkenden Neonröhren aus dem gesamten Regenbogenspektrum - eine echte Disco-Rave-Höhensonne! Ein selbst gut künstlich gebräunter Junge, der mit etwas Sicherheitsabstand zur Bühne im hinteren Drittel des Saals herumhüpft, ruft begeistert: "Oh, mein Gott, auf so eine Scheiße muss man erst mal kommen!"

Die Leute lieben Deichkind, genauso wie Deichkind die Leute lieben. Und den Spiegel der Selbsterkenntnis, den halten sich dann alle gegenseitig vor. Ein echtes Ereignis.

© SZ vom 03.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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