Debütroman:Zürich brennt, und ein Mädchen stürzt ab

Demian Lienhard erzählt von Rebellion, Sucht, Tod: "Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat".

Von HANS-PETER KUNISCH

Die Schülerin Alba Doppler schiebt eine Kochsalzlösung, die lebensnotwendig zu sein scheint, im Stahlgestell durch die Krankenhausgänge. Auch Blutverdünner braucht sie. Wieso genau, wird nicht erklärt. Eine Weile lang denkt man, sie sei wegen eines Unfalls hier. Immerhin erduldet die Teenager-Ich-Erzählerin das Krankenhaus samt siebzigjährigem Prostata-Bettnachbarn ganz gut gelaunt. Ihr Nachbar "sagte nichts, ich sagte nichts, wir schwiegen uns an. Ich würde sagen, wir mochten uns. Jeder ließ den anderen in Ruhe. Keine blöden Fragen".

Demian Lienhard, 1987 im schweizerischen Baden geboren, hat seinen Debütroman aus der Sicht einer Frau verfasst. Lienhard wurde in Klassischer Archäologie promoviert, arbeitet in Frankfurt am Main an der Uni, und dürfte mitbekommen haben, dass männlicher Durchblick auf Frauenleben gerade wenig Kredit genießt. Ist sein Roman "Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat" ein literarisches Gender-Experiment? Dafür scheint die Figur der Alba etwas zu einfach angelegt. Sie ist allenfalls ein rauer Tomboy. Zweifel oder Kritik an Geschlechterrollen sind nicht ihre Sache. Aber der Roman, der anfangs wie eine überlange Krankenhaus-Geschichte im Herrndorf-Stil wirkt, gewinnt im Fortgang an Tiefe.

Die Kratzbürstige aus der Provinz will sich um die Verbesserung der Welt nicht kümmern

Seit Schuljahresbeginn haben sich drei aus Albas Klasse umgebracht. Es ist wie eine Sucht. Auch Alba hat es probiert, an ihrem Handgelenk ein Gemetzel verursacht und dann Angst bekommen, dass sie nicht einmal das Sterben hinkriegt. Sie ist auf die Straße und zusammengebrochen. Im Krankenhaus hat man ihr eine künstliche Sehne eingesetzt. Doch warum wollte sie sterben? Die Romanfigur Alba ist weniger Frau als Repräsentantin ihrer Zeit. Demian Lienhard braucht sie für eine Archäologie der Revolte.

Sein Debüt spielt um 1980: Zürich brennt, Autos, Häuser, eine junge Frau, die sich aus Protest selbst anzündet. Vor dem Opernhaus gibt es Krawalle. Ein 60-Millionen-Kredit zur Sanierung ist genehmigt, ein autonomes Jugendzentrum abgelehnt. Statt diese "politische Weichenstellung" zu akzeptieren, rebellieren die Jugendlichen, die Polizei schlägt zurück und ruft intelligente Provokateure auf den Plan. Eine Woche nach dem Opernkrawall fordern "Herr und Frau Müller" als "Vertreter der Jugendbewegung" im Fernsehen in bieder-sachlicher Maskerade ein drastischeres Vorgehen der Polizei, irritieren Politiker, sprengen eine Diskussionssendung.

Aber "Züri brännt", wie der Dokumentarfilm zu den Unruhen hieß, läuft zunächst nur im Hintergrund mit. Alba sind solche Späßchen fremd. Sie tritt als kratzbürstiges Provinz-Mädel auf, das sich um die Verbesserung der Welt nicht zu kümmern braucht. Doch ihre Coolness ist stumpf. Nicht weit von Zürich lebt sie in einem nebelverhangenen Selbstmörder-Dorf. Der Vater ist irgendwann weg. Der Ersatzvater, ein melancholischer Ukrainer, hat sich erfolgreich umgebracht, die Mutter fertigt Flugpassagiere ab und bleibt selbst daheim auf der Couch. Das Meer hat Alba noch nie gesehen. Im Krankenhaus trifft sie Jack, dessen Schwester im Sterben liegt. Er kommt aus dem wohlhabenden "linkskonservativen Bürgertum", wie er selbst sagt, und hat erzählerisch die Funktion, Alba ins Zentrum der Handlung zu schieben. Selbstverständlich rebelliert er in Zürich, seine Eltern sind verständnisvoll, auch zu seiner Unterschichtsfreundin, die in den Urlaub mitgenommen wird.

Fast alle, die sie getroffen hat, kommen nach und nach unter die Räder

Die giftig-satirischen Beschreibungen des Gutmenschen- und Kreativ-Milieus gehören zum Besten des Romans, und irgendwann mutmaßt man, ob all der Anschaulichkeit, dass Jacks richtiger Name Demian ist und er sich in das Mädchen hineinversetzt, vor dem ihn seine Mutter immer gewarnt hat. Doch Jacks Mutter nimmt die Ersatztochter natürlich gerne an. Die moderne Mesalliance geht erst schief, als Alba ein Kind erwartet. Jack macht sich davon, sie treibt ab.

Dem Roman tut das gut. Die Passagen, die Albas Absturz protokollieren und sich lesen, als seien sie kaum bearbeitete Dokuaufnahmen, verleihen ihm mehr Drive als die Herrndorf-Anleihen, die verführerisch leicht nachzuempfinden sind, aber kein eigenständiges Erzählen zulassen. Alba, eine schweizerische Christiane F., gerät in die Drogenszene auf dem Platzspitz beim Hauptbahnhof, die ab Mitte der Achtziger zur europaweiten Attraktion wird. Heroin ist die wichtigste Droge, die ohne große Probleme immer günstiger erhältlich ist, was dazu führt, dass auch hier viel gestorben wird. Väter ballern mit dem Sturmgewehr der Schweizer Armee herum, um ihre Kinder zu retten. Verzweifelt-verwirrte Mütter verirren sich im Park zwischen den Süchtigen.

Lienhard inszeniert einen anfangs gemächlichen Totentanz, der an Fahrt aufnimmt und immer quälender wird. Albas Unglück, erfährt man im Rückblick, hat damit begonnen, dass ihre Schwester bei einem Autounfall starb. Schuld daran war der ukrainische Ersatzvater, der das nicht verwinden konnte. Nach und nach kommen fast alle, die Alba in ihrem Leben getroffen hat, unter die Räder. Auch Jack, der heroinsüchtig wird.

Die Revolte endet im Zerfall der Szene. Alba selbst scheint sich, dem Beispiel einer österreichischen Bekannten folgend, per Ausstieg retten zu können. Man fürchtet schon die Überhöhung des Ganzen, das gute symbolische Beispiel, als Lienhard seine Heldin sich doch anders entscheiden lässt. Und kurz vor dem makabren Schluss findet er auch noch ein schönes poetologisches Bild für die Beziehung zu seiner abgerissenen Figur und den Ursprung seines Romans. Alba, die vom Heroin loszukommen versucht, geht in einem See in der Nähe schwimmen. Als sie, kalkweiß und vernarbt, wieder ans Ufer kommt, kauft sie einem kleinen Jungen namens Demian ein Eis.

Demian Lienhard: Ich bin die, vor der mich meine Mutter immer gewarnt hat. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2019. 378 Seiten, 24 Euro.

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