Es liegt eine Dringlichkeit in der Stimme von Kate Tempest, die atemlos macht. Die Zuhörer, nicht sie. Auf der Bühne klingt diese Stimme, als habe Kate Tempest nur wenig Zeit, um loszuwerden, was sie zu sagen hat. Oder als habe sie Angst, dass der Mahlstrom des Überdrusses sie mit sich reißt. "Look how the traffic keeps moving, the system is too slick to stop working", rappt sie im Protestsong "Europe Is Lost".
Ob auf Lesungen oder Konzerten, Kate Tempest spuckt die Wörter förmlich aus in dem Verlangen, sich der Welt mitzuteilen, auch auf "Everybody Down" war das spürbar, ihrem 2014 veröffentlichten Debütalbum. Das Album wurde gefeiert, Kate Esther Calvert alias Kate Tempest zur Stimme einer ganzen Generation erklärt, zur Wortführerin der neuen englischen Arbeiterklasse, zur genialen Sprachkünstlerin.
Nun hat die 30-jährige Londonerin ihren ersten Roman veröffentlicht: "Worauf du dich verlassen kannst" greift die erzählerischen Miniaturen auf, die "Everybody Down" zu einem komplexen Konzeptalbum gemacht haben, und vertieft sie. Die gerappten Geschichten über diese Mittzwanziger lassen den Hörer sprachlos zurück, so gewaltig kommen sie daher, aber sie machen auch ein wenig ratlos: Was bleibt von den Figuren, wenn die Beats verklungen sind? Mit ihrem Roman erschafft Tempest ihnen nun eine Vergangenheit, eine Geschichte.
Eine empfindsame Dichterin unterwegs auf hartem Pflaster
Der Südosten Londons hat die Sprache von Kate Tempest hart und ihre Stimme fest gemacht. Doch sie wäre vermutlich nicht von den Feuilletons gefeiert worden, klänge sie nicht mehr nach William Blake als nach 50 Cent und eher nach William Butler Yeats als nach Juliane Engelmann. Tempest ist eine empfindsame Dichterin, unterwegs auf hartem Pflaster.
Mit 16 Jahren verließ sie die Schule ohne Abschluss, wollte kreatives Schreiben lernen. 2013 erhielt sie den Ted Hughes Award für ihr Gedicht "Brand New Ancients", da war sie 27. Sie arbeitet unentwegt: In Gedichten, Theaterstücken, Rap-Songs und nun auch in Prosa lotet sie die Möglichkeiten der unterschiedlichen Genres aus. Hip-Hop ist für sie eine literarische Gattung, und ihre Prosa besitzt das Pathos von Punchlines.
Noch während sie mit dem Album auf Tour war, begann sie, den Roman zu schreiben. Es gibt hier nicht nur ein Wiedersehen mit Pete, Harry und Becky, auch die Kapitel heißen genauso wie die Songs. Aber das Buch erschöpft sich keineswegs darin, die Rap-Texte auf Romanlänge auszuwalzen. Egal, wie sehr man das Album mochte, erst der Roman bringt den Figuren Empathie entgegen, und Empathie ist für Tempest das, was Literatur ausmacht. Tempest hat eine Mission: Sie möchte die Menschen erreichen, sie schütteln und ihnen zeigen, wie die Welt um sie herum aussieht. Und weil eine einzelne Stimme dafür manchmal nicht ausreicht, tut sie das nun mit einem Roman.
Drogen sollen helfen, Interesse zu heucheln
"Worauf du dich verlassen kannst" spielt in Tempests Heimat South-East London. Die schöne Becky, die eigentlich lieber Tänzerin wäre, kellnert tagsüber im Café ihres Onkels und gibt abends Männern erotische Massagen. Pete, der sie so sehr liebt, dass er ihrer beider Leben zur Hölle macht, betäubt seine Eifersucht mit Alkohol. Und Harry, ein Mädchen, das Frauen liebt, verkauft Koks an Leute, die es sich "reinballern, nur um Interesse am Gelaber der anderen heucheln zu können".
Sie alle sind verliebt, verkatert, verzweifelt. Und einsam in dieser Stadt, die ihnen mit kaltem Gleichmut begegnet: "Die Stadt gähnt und lässt die Fingerknöchel knacken. Schickt ein paar verlorene, taumelnde Seelen vorbei." Tempest erzählt von der Ungerechtigkeit des Daseins, die auch Becky empfindet, wenn sie durch die Facebook-Profile scrollt, nur um zu sehen, dass andere es im Gegensatz zu ihr in eine Tanzkompanie geschafft haben.
Aus einem Gewirk feiner Fäden spinnt Tempest ihren Roman, lässt hier ein bisschen Spiel, um sie dort wieder stramm zu ziehen. Dabei verfangen sich die Lebensgeschichten der Protagonisten immer mehr ineinander, bilden Knoten und neue Gespinste mit Nebenfiguren, Eltern, Großeltern, Onkeln oder Schulkameraden. Die meisten Familien sind zerrissen: Die Väter verschwunden, die Mütter verloren, an Alkohol, Drogen, eine Sekte. Jede der hoffnungslosen Figuren auf den Straßen ist jemand, den das Leben unglücklich gemacht hat. Man spürt das Mitleid und Verständnis der Autorin für diese "Menschen, die ihren müden und gebrochenen Herzen einen netten Abend abtrotzen" - mit Alkohol, Koks und Pillen. Betäuben, Aufputschen, Betäuben. Das ist der Rhythmus dieser Londoner Nächte.
Tempest spielt mit diesem Rhythmus, beschleunigt das Tempo gegen Ende so stark, dass alle Erzählfäden zusammenschnurren. Auf dem Weg dorthin baut sie immer wieder Rückblenden in die Vergangenheit ihrer Protagonisten ein und rührt an alte Verletzungen.
Dieses London ist ein gewalttätiger Ort
Da ist Miriam, die Mutter von Harry und Pete, die sich so sehr eine "richtige Tochter" gewünscht hatte und ihr den Namen Harriet gab. Aber Harry will nicht mehr Harriet heißen, trägt Männerklamotten und geht wie ein Boxer. Enttäuscht verstummt Miriam jedes Mal bei ihrem Anblick. Sie weiß, "dass das Leben nicht das war, was man daraus machte, sondern das, was man aushielt".
Dieses London ist ein gewalttätiger Ort, an dem alle auf der Durchreise sind zu dem, wo sie eigentlich hinwollten: einer Tanzkarriere, einem eigenen Café, einem Job, der einen nicht mit Selbsthass erfüllt. Weil sie nicht wissen, wie weit es bis dahin noch ist, und weil sie die Richtung verloren haben, wirken Harry, Pete und Becky wie vom Leben enttäuschte alte Seelen in jungen, aber ausgemergelten Körpern. Es liegt eine große Traurigkeit in dem Roman, die aber nie in Larmoyanz kippt, weil die Protagonisten sich ihrem Schicksal nicht kampflos ergeben.
"Leon sah, dass das Leben mal abscheulich und mal schön und manchmal beides sein könnte." Sätze wie diese könnten Mut machen, wäre da nicht die Übermacht der Gewalt, die alle niederdrückt und das Leben auf die eine oder andere Weise bestimmt: "Die Gewalt schlägt ihr rechts und links ins Gesicht. Gewalt steht über ihr, drückt ihren Kopf zwischen die Kloschüssel und die Kabinenwand und holt aus." Die Erzählerin spricht in dermaßen vielen Bildern und lyrischen Vergleichen, dass man sich nach dem Lesen manchmal selber fühlt, "als säße man in einem Mund mit zu vielen Zähnen fest".
Tempest erzählt zärtlich und verzeihend von ihren Figuren
Kate Tempest hat die Gegenwartserzählung ihres Albums "Everybody Down" mit Vergangenheit angereichert und, indem sie die Zeitebenen ineinander schiebt, Figuren von großer Tiefe und Komplexität geschaffen. Ihre Erzählstimme, die ebenso unbedingt, aber weniger getrieben ist als ihre Rap-Stimme, ist das Gegenkonzept zum Zynismus jener Gesellschaft, die sie beschreibt: Während die Menschen um sie herum versuchen, die Welt erträglich zu machen, indem sie sich betäuben, bleibt Tempest als Erzählerin stets wach und empfindsam. Sie lässt sich ganz auf ihre Figuren ein und erzählt zärtlich und verzeihend von ihnen.
Diese Literatur ist der Kontrast zum harten Pflaster South-East Londons und konnte vielleicht auch nur auf einem solchen gedeihen.