Süddeutsche Zeitung

Debüt:Liebe, Sex und lange Zähne

Luise Boeges raffiniert komischer Vampirroman "Kaspers Freundin" ist ein Sprachereignis, das seine Leser weniger das Gruseln lehrt als vielmehr ein breites Grinsen ins Gesicht zaubert. Voller Biss und Witz.

Von Martin Lechner

Es gibt Bücher, die schwirren so lautlos unter den Radars des Literaturbetriebs hinweg wie Fledermäuse. Es verwundert jedes Jahr aufs Neue, dass die kontinuierlich steigende Romanproduktion mit einer Aufmerksamkeitskonzentration auf einige wenige, aber vielfach besprochene Titel einhergeht. Luise Boeges fantastischem Debüt, das in dem kleinen Leipziger Verlag des Lyrikers Bertram Reinecke erschienen ist, wünscht man unbedingt viele Leser. Ob Vampirfans oder Literaturfreaks, alle, die dieses Buch verpassen, sind zu bedauern. Denn "Kaspers Freundin" ist auf jeder Seite ein Sprachereignis, das eine Atmosphäre der Unheimlichkeit verbindet mit der Bereitschaft zur Albernheit, die schon im Namen des Helden angezeigt wird. Denn dessen Schreibweise verweist statt auf Kaspar Hauser eher auf den Suppenkasper.

Die Geschichte ist ganz einfach, wenn auch für die Figuren entsetzlich kompliziert. Kasper und seine Freundin haben beschlossen, sich nicht mehr zu sehen, und bis sie sich doch wieder sehen, geschieht so einiges. Der Großvater ist auf der Chaiselongue entschlafen. Kasper bewohnt jetzt sein Haus. Ein violetter Herr, allem Anschein nach ein Vampir, auch wenn er nie so genannt wird, erscheint und kauft ihm seine Geige ab. Die titelgebende Freundin rekrutiert Joseph, eine Art Vampirjägernerd, als Übergangsfreund und begibt sich in Therapie. Als sie und kurz danach auch die Geige zu Kasper zurückgekehrt sind, spielt er in einem Musical des Hohenzollernvereins mit. Das Geschehen, auch das klassische Vampirgeschehen mit beißen und bluten, Sonnenlicht und Särgen, wird dabei oft, aber nicht immer durch die drei Worte "und so weiter" übersprungen. Der Umgang mit dem Genre, wenn auch weniger der komische Zugriff, erinnert an den amerikanisch-iranischen Vampirwestern "A Girl Walks Home Alone at Night", einen Film, in dem es gleichfalls um Dinge geht, die in der Handlung nicht aufgehen.

Wilde Wiewortverrücktheiten zerren hier an den rostigen Ketten des konventionellen Erzählens

Ähnlich wie der violette Herr, den Kasper manchmal gar nicht richtig erkennen kann, wirkt der Plot seltsam unscharf. In Abwandlung von Adornos irreführendem Satz über die Philosophie, die wesentlich nicht referierbar sei, ließe sich sagen, dieser Roman, wie Literatur überhaupt, ist wesentlich nicht referierbar. Für einen Leser, der sich im abgedunkelten Innenraum seines Kopf-Kinos zurücklehnen und dann von einer - sei es historisch, sei es gegenwärtig - hauptsächlich laut rauschenden Geschichte aus dem Sessel reißen lassen möchte, ist "Kaspers Freundin", trotz Liebe, Sex und langen Zähnen, vermutlich nichts. Ähnlich wie bei Georg Klein, dem Meister der literarischen Genre-Anverwandlung, ist die Sprache bei Luise Boege, ohne je zu verschwurbeln, zu wenig weggeduckt, zu wenig Werkzeug der Handlung, sondern immer eigene Bewegung.

Und es ist schlichtweg faszinierend, wie es ihr über 200 Seiten gelingt, von Satz zu Satz immer neu zu überraschen. Zunächst fallen die Adjektive auf. Wer glaubt, man könne das Wesentliche, womöglich gar die Wirklichkeit, mit nackten Nomina zwischen zwei Buchdeckel locken, muss tief Luft holen. Kaspers Freundin wird nämlich von den wildesten Wiewortverrücktheiten durchtanzt. Da gibt es "deutliche" Tassen, "rutschige" Erinnerungsteile, "heringsgrau" flackernde Vorstädte, "zeitlupenkaltes" Gehen, "kantig" im Augenwinkel herumhänge Tränen, "knisternde" Handgelenke und vieles mehr. Je mehr man davon liest, desto klarer wird, dass die Adjektivverachtung, deren Pflege eine Zeit lang Luise Boeges literarischer Ausbildungsstätte, dem Deutschen Literaturinstitut Leipzig, zugeschrieben wurde, sich richtigerweise auf den konventionellen Umgang mit Adjektiven hätte richten sollen, statt deren Potenzial pauschal vom Tisch zu wischen.

Des Weiteren springen die vielen Wiederholungen ins Auge. Doch statt die Wichtigkeit des Wiederholten zu betonen, zerdehnen sie Bedeutungen oft zu Brei: "Zu viert sitzen sie auf der Chaiselongue von Kaspers totem Großvater, nebeneinander, zu viert." Die Wiederholung wirkt wie ein Echo, in dem der Sinn schon leicht zur Sinnlosigkeit verhallt. Darin spiegelt sich nicht nur Kaspers permanentes Üben auf der Geige, sondern vor allem auch die verläpperte Liebe, die zwischen Kasper und seiner Freundin zu einem schnöden Pärchengeschehen verkommen ist. Ein Großteil des Romans besteht aus Dialogen dieser beiden, die weder aus- noch zueinander kommen. Sie scheinen aneinander gefesselt zu sein durch eine unter Bergen von Langeweile, Gemeinheiten und Blödsinn unaussprechlich weiterwesende, untote, suchtartige Liebe. Passenderweise sind die Einsätze direkter Rede dabei nicht durch Anführungsstriche herausgehoben, sondern lediglich durch Umbrüche lose voneinander abgesetzt, denn auch das Sprechen und Denken führt nicht in die Freiheit voneinander.

Gezielt unterwandert Luise Boege in ihrem Debüt das bekannte, aus abgenudelten Realismuseffekten zusammengeleimte Erzählen, das so viele Buchhändlertische beherrscht. Aber auch zur anderen Seite fällt sie nicht vom Pferd. Denn statt auf die selbstreferenzielle Pauke zu hauen und den Leser darüber aufzuklären, dass er, falls er es noch gar nicht gemerkt haben sollte, nur ein Buch, und nicht das leibhaftige Leben, in den Händen hält, vollzieht "Kaspers Freundin" eine Verrückung des Erzählens hin zu einer Sprachbewegung, die mit seltsamem Witz einen Grenzbereich auslotet, der sich, wie die Autorin in einem Interview erklärt, mit Handlung nicht beschreiben lässt. Statt den Roman als bloße Fiktion zu enttarnen und die Autorin aus den Kulissen stolpern zu lassen, klopft die Geschichte an die Kellertüren des Verstandes. "Sie küssen sich ernst. Der Wind fährt in die Bäume, die Toten freuen sich. So schön ist dieser erste April."

Der Satz über die Toten grätscht mitten hinein in die angekitschte Szenerie und lässt den Untergrund der Geschichte aufscheinen. Es ist ein unheimlicher, oft schräger und zugleich ironisch runtergekochter Ton, mit dem hier erzählt wird. Nicht umsonst heißt es einmal gegen Ende: ". . . in Nebenzimmern scheinen Menschen auf verstimmten Bratschen zu dilettieren, aber das ist bloß das metaphysische Gruseln, das uns alle packt, von Zeit zu Zeit."

Wenn der Roman zu Ende gelesen ist, packt einen allerdings weniger das metaphysische Gruseln, sondern vor allem die sehr physische, zuckende Freude, nicht lange auf das nächste Buch der Autorin, die 2006 beim Nachwuchswettbewerb Open Mike gewann, warten zu müssen. Demnächst erscheint bei Luxbooks "Bild von der Lüge", ein Band mit Erzählungen.

Martin Lechner, geboren 1974, stand 2014 mit seinem Debütroman "Kleine Kassa" auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.

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Quelle:
SZ vom 25.08.2015
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