Süddeutsche Zeitung

Debatte zur Ästhetik des Theaters:Glücklich ist, wer den Text vergisst

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Stresstest Uraufführung: Bei der Inszenierung neuer Stücke prallen Kunstwelten aufeinander. Wie bei Björn SC Deigners "Mission Mars" in Oldenburg.

Von Jürgen Berger

Neue Theaterstücke sollten in der Erstinszenierung ganz zur Geltung kommen. Ist das nicht der Fall, sind Konflikte vorprogrammiert. Verschiebt ein Theater die Uraufführung eines neuen Stücks, wird das meist mit künstlerischen Differenzen begründet. Worum es konkret geht und welche handfesten Konflikte sich hinter der Floskel verbergen, erfährt man nicht. Wer spricht schon gerne darüber, was auf dem schwierigen Weg von der Fertigstellung eines Theaterstücks bis hin zur Premiere aus dem Ruder gelaufen ist.

Anders als ein Roman, der in der Fantasie des Lesers ein Eigenleben entwickelt, treffen Theatertexte auf Schauspielerinnen, Regisseure, Dramaturginnen, Intendanten. Sie greifen in den Text ein, interpretieren, kürzen, ordnen neu. Das ist legitim und im Sinne der Kunst. Es gibt aber auch die Verabredung, ein Theatertext sollte zumindest für seine Bühnengeburt möglichst vollständig zur Geltung kommen. Besteht der Verdacht, diese Regel könnte verletzt worden sein, kommt es, wie jüngst am Deutschen Theater Berlin, zu einem Stresstest der besonderen Art.

Zur Uraufführung kam Björn SC Deigners "In Stanniolpapier". Kurz nach der Premiere intervenierten der Autor und der S. Fischer Theaterverlag. Regisseur Sebastian Hartmann, so die Kritik, habe mehr als zwei Drittel des ursprünglichen Textes gestrichen. Am Ende setzten Deigner und der Verlag sich mit der künstlerischen Leitung des Deutschen Theaters zusammen. Man entschied: Hartmanns Inszenierung darf zwar weiter gezeigt werden, ist aber nicht mehr die Uraufführung.

Manchmal muss die Vorlage erst geschreddert werden, damit ein Bühnenkunstwerk entsteht

Die gab es darum nun am Schauspiel Bonn zu Beginn einer Saison, die für den Autor schon ziemlich erfolgreich ist. Deigner ist von Hause aus Sounddesigner und Komponist, "In Stanniolpapier" war sein Debüt als Autor. Als er im September in der Bonner Uraufführung saß, wusste er bereits, dass innerhalb kurzer Zeit noch zwei weitere Theatertexte von ihm zur Uraufführung kommen würden. Am Bamberger ETA Hoffmann Theater stand mit "Der Reichskanzler von Atlantis" ein Stück über die Verschwörungstheorien, esoterischen Verschwurbelungen und die rechtsextreme Militanz sogenannter Reichsbürger auf dem Programm. Ein Stoff, an den sich bislang kaum jemand gewagt hat. Am Wochenende brachte dann das Oldenburgische Staatstheater einen Text, der auslotet, wie es wohl wäre, würde die Menschheit sich infolge des Klimawandels tatsächlich einen Planeten B zulegen.

Für diese "Mission Mars" war Deigner drei Monate lang Writer in Residence am Delmenhorster Hanse-Wissenschaftskolleg. Dort treffen sich Spitzenwissenschaftler aus aller Welt, und er konnte der Frage nachgehen, ob und wann auf dem roten Planeten tatsächlich eine autarke Menschensiedlung gegründet werden könnte. Das Ergebnis: technisch machbar ist es durchaus, die Frage lautet, wie Menschen die "Isolationshaft" auf engstem Raum überstehen, die ihnen bevorsteht. Die Nasa hat das bereits getestet, Deigner überträgt das wissenschaftliche Experiment auf seine Marsgesellschaft.

Sie besteht aus der agilen französischen Missionschefin Alex (Franziska Werner), einem überforderten Ulf aus Deutschland (Matthias Kleinert) und einem österreichischen Astronauten Christian (Fabian Kulp). Dem Text würde ein beherzter inszenatorischer Zugriff gut tun. Kevin Barz ist allerdings ein Regisseur, der sich stark zurücknimmt. Das gilt auch, wenn klar wird: Alles ist nur eine Simulation, mit der die "European Space Agency" testet, wie Astronauten auf Stress, Hunger und Durst reagieren. Da könnte es deftiger zugehen. Die Inszenierung wirkt, als wolle sie noch feinsinniger sein als der Text.

Was die Texttreue angeht, kann Björn SC Deigner zufriedener sein als nach dem Berliner "Unfall", der exemplarisch zeigte, welche Fallgruben auf dem langen Weg von der Fertigstellung eines Theatertextes bis hin zur Uraufführung lauern können. "In Stanniolpapier" basiert auf der Geschichte einer Frau, die als junges Mädchen missbraucht wurde und später als Prostituierte arbeitete, sich aber nicht als Opfer definiert. Deigners Text ist kaum mehr als die interpretierende Ausformulierung eines Interviews mit dieser Frau. Genau das aber hat Regisseur Sebastian Hartmann veranlasst, sich sehr weit vom distanzierten Nachvollzug der Lebensgeschichte zu entfernen und eine radikale Innensicht unter Einbeziehung der Freier zu wagen. Ein klarer Fall von Regiewillkür, war danach zu hören. Dagegen steht, dass Hartmann mit einer überzeugenden künstlerischen Setzung auf den Stoff reagiert und die Geschichte der M. in eine Kunstwelt versetzt hatte - aber eben auch vehement gekürzt.

Spricht man heute mit Hartmann, weist er darauf hin, dass er nicht gewusst habe, auf was er sich mit dieser Uraufführung einlässt. Das ist nicht außergewöhnlich. Es kommt häufig vor, dass ein Regisseur erst nach Vertragsunterzeichnung den Uraufführungs-Text kennenlernt. Dass man am Deutschen Theater Berlin der Ansicht war, der ausgewählte Regisseur sei in dem Fall der richtige, ist dagegen außergewöhnlich. Hartmann inszeniert gerne Roman-Adaptionen und verwendet auch da nur Teile des Textes als Material für szenische Installationen.

Was im Fall eines Klassikers der Weltliteratur gelingen kann, sollte bei der Uraufführung eines unbekannten Textes allerdings nicht das erste Mittel sein. Hartmanns Begründung, warum er auf Deigners Text mit radikalen Strichen reagiert hat: "Soweit ich das verstanden habe, will der Autor eine ehemalige Prostituierte so zeigen, dass sie das Thema Prostitution überwunden hat. Dass so etwas möglich ist, wage ich zu bezweifeln. Ich kann diesen Text nicht ernst nehmen." Tja.

Und der Autor? Auch ihm, so Björn SC Deigner, habe sich beim Schreiben die Frage gestellt, ob eine in der Jugend missbrauchte Prostituierte tatsächlich ein selbstbestimmtes Leben führen könne. Aber: "Ich habe ja als männlicher Autor über eine Frau geschrieben und konnte mir nicht zugestehen, das Innenleben der Frau zu erkunden. Ich hätte das als übergriffig empfunden. Also stelle ich es zur Diskussion und denke, dass es keine richtige oder falsche Antwort gibt."

Der Fall ist nicht nur deshalb außergewöhnlich, weil ein Text geschreddert wurde, trotzdem aber ein beeindruckendes Bühnenkunstwerk entstand. Denn Sebastian Hartmann ist auch ein Regisseur, der ganz selbstverständlich davon ausgeht, die Würde von Texten sei antastbar. Dass Regisseurinnen und Regisseure übergriffig werden, ist kein neues Phänomen und hat mit dem Aufbruch einer Regiegeneration zu tun, die ab den Sechzigerjahren das deutschsprachige Theater für Experimente öffnete. Damals hießen die Bilderstürmer Peter Stein, Claus Peymann, Peter Zadek, Michael Grüber, Luc Bondy. Ihre Arbeit war allerdings noch von Respekt gegenüber dem Text geprägt. Dieser Respekt ist in den letzten Jahren zunehmend abhandengekommen, und das hat mit dem Engagement deutschsprachiger Theater für die Produktion neuer Theatertexte und ganz unterschiedlicher Textsorten zu tun. Die Ironie: Autorinnen und Autoren haben heute wesentlich bessere Möglichkeiten, einen Text zu platzieren als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren.

Einzelne Texte werden allerdings nicht mehr mit der notwendigen Sorgfalt geprüft und inszeniert, sei es wegen der großen Masse neuer Theaterstücke oder wegen des ungeheuren Zeitdrucks in den Theatern. Dazu kommt: Auf dem Rücken von Text und Regie werden nun auch die Konflikte ausgetragen, die im Theater sowieso schon für eine Atmosphäre der Verunsicherung sorgen. Gemeint sind strittige Fragen wie: Wer darf als Schauspielerin oder Schauspieler überhaupt wen repräsentieren? Oder was ist nach den Erschütterungen von "Me Too" auf der Bühne noch verhandelbar?

Warum es in solch einer Atmosphäre zu Verwerfungen kommen kann, zeigt die Uraufführung von Nis-Momme Stockmanns "Imperium des Schönen" am Staatsschauspiel Stuttgart. Stockmann hatte einen Text vorgelegt, der mit klassischem Dialogtheater und einer Klimax-Dramaturgie aufwartet. Es geht um einen Philosophieprofessor Falk, der mit seiner Familie Bildungsurlaub in Japan macht. Dazu eingeladen hat er seinen Bruder Matze und dessen neue Freundin Maja. Sie ist Bäckereifachverkäuferin, was zur Folge hat, dass der Professor sie aus der familiären Reisegruppe rausekeln will. Die Freundin allerdings ist diskursiv sattelfest.

Bei den Konflikten spielen nicht nur ästhetische, sondern auch ökonomische Fragen eine Rolle

Es entwickeln sich Rededuelle, und genau das hat offensichtlich auf den Autor Stockmann und die Regisseurin Pinar Karabulut abgefärbt. Die beiden lieferten sich ein Fernduell, und irgendwann war Stockmann mit Karabuluts Textänderungen nicht mehr einverstanden. Die künstlerische Leitung des Stuttgarter Staatsschauspiels reagierte mit einem Regie-Wechsel. Am Ende, so Karabulut, sei es um eine Regieanweisung Stockmanns gegangen, der Philosophieprofessor solle die Freundin des Bruders ohrfeigen. "Ich möchte aber nicht, dass bei mir auf der Bühne eine Frau geohrfeigt wird, nur um einen Mann schwach zu zeigen. Letztendlich reproduziere ich damit alte Stereotype. In meiner Version wäre Falk auf unbeholfene Art übergriffig geworden."

Nis-Momme Stockmann argumentiert zwar nicht gegen Eingriffe in Theatertexte, klare Vorstellungen, wann sie sinnvoll sein könnten, hat er schon: "Ich glaube nicht an die Heiligkeit des Wortes und akzeptiere Striche. Es sollte aber ein dramaturgisches Prinzip dahinter stehen. Hinzu kommt, dass bei einer Uraufführung der Text das Primat hat. Das hat auch damit zu tun, dass die Qualität der Uraufführung darüber entscheidet, ob ein Text nachgespielt wird."

Stockmann spricht damit an, dass bei solchen Konflikten nicht nur ästhetische Glaubensfragen, sondern auch ökonomische Interessen ein Rolle spielen: Autorinnen und Autoren möchten möglichst viele Theater für ihre Texte interessieren, Regisseurinnen und Regisseure dagegen als eigenständige szenische Erzähler und nicht nur als Geburtshelfer dramatischer Texte wahrgenommen werden.

Wollte man die Interessenkonflikte mit einer Forderung nach restriktiver Texttreue verhindern, wäre das nicht im Sinne der Theaterkunst. Es geht eher darum, dass die Theater genauer prüfen, wer welchen Text inszenieren sollte. Nis-Momme Stockmann hätte, bevor er die Glaubensfrage stellte, sein Toleranzpotenzial gegenüber der Regisseurin erweitern können. Pinar Karabulut hätte sich fragen können, ob die Darstellung einer stereotypen Gewalthandlung schon dazu beiträgt, Gewalt zu legitimieren. Und Björn SC Deigner? In einer Auseinandersetzung mit dem Regisseur hätte er sich offensiver der Frage stellen können, ob ein selbstbestimmtes Leben in der Prostitution möglich ist. Dass es da keine richtige oder falsche Antwort gibt, muss ja nicht den Verzicht von Fragen zur Folge haben. Und Sebastian Hartmann hätte darüber nachdenken können, frühzeitig die Regie von "In Stanniolpapier" abzugeben. Warum auch sollte man sonst einem Text, von dem man nichts hält, die Seele aus dem Leib streichen?

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Quelle:
SZ vom 14.01.2020
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