Debatte:Warum in der Empörung über Terror auch Neid steckt

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Nizza im Juli 2016: Der Lkw des Attentäters, der zuerst 86 Menschen tötete, und dann von der Polizei erschossen wurde. (Foto: REUTERS)

Mit ihren unmenschlichen Taten drängen Terroristen unserer Gesellschaft eine essenzielle Frage auf: Wie steht es in der westlichen Welt mit höheren Zwecken?

Gastbeitrag von Christoph Türcke

Der Islamismus rückt näher. Die Erschütterung nach jedem neuen Attentat, wie wir sie in den letzten Wochen immer wieder erlebt haben, ist echt. Aber längst hat die Politik zu einer Sprachregelung gefunden. "Abscheu und Entsetzen angesichts eines unmenschlichen und feigen Verbrechens" ist die immer wiederkehrende Formel. Unmenschlich: zweifellos. Die Attentäter interessiert nicht, ob sie Frauen oder Kinder, Staatsbedienstete oder Privatleute, Sympathisanten oder Feinde mit in den Tod reißen; Hauptsache, es sind möglichst viele.

Aber "feige"? Sind Menschen, die in eine Menschenmenge fahren oder schießen, in der Gewissheit, dass sie ihre Tat gar nicht oder nur kurz überleben könnten, feige? Ihr Überfall auf Ahnungslose ist heimtückisch. Ihre Auftraggeber mögen feige sein. Sie selbst sind es nicht. Ihre Tat zeigt ungeheuren Mut - zwar nicht jenen besonnenen Mut, den Aristoteles als Tugend pries, sondern einen mörderisch-tollkühnen. Aber auch der verlangt etwas, was im Westen immer mehr zum Fremdwort geworden ist: Selbstüberwindung.

Wer würde für die Demokratie sein Leben geben?

Davon will das Wort "feige" ablenken. Man soll nicht wahrnehmen, dass sich da Leute überwunden haben, für einen höheren Zweck ihr Leben herzugeben. Denn dann müsste man sich auch fragen: Gibt es etwas, wofür ich das tun würde? Wie steht es in der westlichen Welt mit höheren Zwecken? Während alle staatstragenden Verlautbarungen die Demokratie wie eine Monstranz vor sich hertragen, geht fast die Hälfte der Staatsbürger nicht mehr regelmäßig zur Wahl. Was ändern, so mögen sie denken, Wahlen am Grundsätzlichen: an der Bürokratie, an den Finanzmärkten, an der Staatsverschuldung, am Sparzwang, der für wirklich durchgreifende Verbesserungen, etwa im Bildungswesen, das Geld sperrt? Diese Frage macht alle Parteien schmallippig. Zwar findet die überwiegende Mehrheit die Demokratie nach wie vor gut. Aber wie viele würden für demokratische Prinzipien gar ihr Leben einsetzen?

Wer da für die eigene Person ganz ohne Zweifel ist, der hebe die Hand. An alle Zweifelnden aber enthalten die islamistischen Attentate eine Botschaft: Schaut her, es gibt noch Leute, die ihr Leben für etwas Höheres einsetzen. Das fehlt euch Westlern! Deshalb eure permanente Unruhe, euer Zwang zu ständigem Wirtschaftswachstum, eure Sucht nach Neuem, eure gigantische Unterhaltungs-, Ablenkungs- und Zerstreuungsmaschinerie, an die ihr euch klammert, als wäre sie ein Gott, obwohl ihr genau wisst, dass sie keiner ist. Besinnt euch auf den wahren Gott - unseren Gott. Schließt euch uns an!

In der Empörung über Fundamentalismus steckt auch Neid

Und so lautstark der aufgeklärte Westler diese Botschaft als verbohrt von sich weisen mag, einen Stich versetzt sie ihm doch. Sie lässt ihn spüren, dass Aufklärung, kritische Prüfung, Diskussion nicht an sich gut sind, sondern nur ein Zweitbestes. Wer sie nötig hat, dem fehlt das Beste: die sich von selbst verstehende Gewissheit, das wortlose Einverständnis. Und wer sehnte sich danach nicht?

Der Fundamentalismus suggeriert, dies Ersehnte zu haben. In der Empörung gegen ihn steckt auch verstohlener Neid. Ach, wäre man seiner eigenen Sache doch so gewiss, wie er sich gibt. Die "westlichen Werte" gewähren nicht den gleichen Grad an Gewissheit. Sie verlangen etwas anderes als platte Identifikation. Wer etwa vorbehaltlos auf Toleranz besteht, wird merken: Die Duldsamkeit gegenüber anderen Meinungen hört spätestens dort auf, wo jemand von Toleranz nichts hält. Gegen den muss Toleranz um ihrer selbst willen intolerant werden. Auch die anderen demokratischen Leitbegriffe geraten in Widerspruch mit sich selbst. Solidarität: auch mit jedem Schuft? Freiheit: auch zu jeder Gemeinheit? Gleichheit: ohne jede Rücksicht auf Besonderheiten? Solche Leitbegriffe als "Werte" festschreiben zu wollen, ist bereits ein Missverständnis. Sie sind Indikatoren von Humanität, aber nichts ein für allemal Festgestelltes, worauf man sich so versteifen könnte, wie andere es darauf tun, dass Mohammed Allahs wahrer Prophet oder Christus wahrhaft von den Toten auferstanden sei.

Der islamistische Terror legt den Finger in die Wunde der "postheroischen Gesellschaft", die von Herfried Münkler und anderen Interpreten konstatiert wird und die vorerst nur im Westen gedeiht. Sie hängt Staat und Nation nicht mehr so hoch, dass man sich dafür in Militärdienst und Zivilleben aufopfern müsste. Opfer sind ihr suspekt. Die Urbedeutung von "heroisch" aber ist "opferbereit". Der Heros war ursprünglich der junge Mann, der der griechischen Muttergöttin Hera dargebracht wurde. "Herakles" heißt wörtlich "der von Hera Berufene" (zum Opfer). Das war eine sakrale Berufsbezeichnung, ehe daraus der Eigenname eines Kämpfers wurde, der die größten Widrigkeiten überwand, bis er schließlich am Altar der Gottheit verbrannte. In den Herakles-Mythen nimmt die Heros-Figur eine kriegerische Bedeutung an und verrät gleichwohl noch ihre Herkunft aus dem Sakralbereich. Für alle echten Heroen der antiken Mythologie aber gilt: Sie sterben früh und im Kampf.

Das soll nicht mehr sein, lautet der postheroische Tenor. Statt dass Nationen ihre Armeen aufeinander hetzen und ihre Kriegstoten dann zu Helden verklären, sollten sie sich auf das Motto von Brecht besinnen: "Unglücklich das Land, das Helden nötig hat." Eine wirklich freie und solidarische Gesellschaft braucht keine. Da muss sich niemand mehr für irgendwelche höheren Werte oder Zwecke aufopfern. Das ist richtig - zeigt aber, wie weit der gepriesene Westen von solcher Freiheit und Solidarität entfernt ist. Kommt er ohne Polizei und Militär aus? Öffnet er seine Landesgrenzen für alle Bedürftigen?

Vor allem aber macht der Brechtsche Slogan die Rechnung ohne Kinder und Jugendliche. Er ignoriert die Gesetze des Erwachsenwerdens. Denn Mündigkeit fällt nicht vom Himmel. Nur durch einen Bildungsprozess kommt man dahin, dass man keine Helden nötig hat. Wer aber keine mehr braucht, hat einmal welche gehabt. Kinder werden nur groß, indem sie sich zunächst mit dem Größeren ihrer Umgebung identifizieren. Aber muss dies Größere gleich etwas "Heroisches" sein? Genügt es nicht, ist es nicht sogar viel friedensfördernder, wenn sie sich mit großen Sportlern oder Popstars identifizieren? Nun, wenn sie das tun, das sind das ihre Helden. Oft ziemlich flache, es sei denn, sie kommen in der Arena oder im Showbusiness um. Dann umweht auch sie ein wenig alte Heroen-Aura.

Der Keim des Heroischen: alltägliche Zivilcourage

Der im Kampf für seine Gruppe, seine Sache, seine Überzeugung Sterbende ist nur der heroische Prototyp: der Extremfall. Unterhalb davon gibt es aber viele ganz alltägliche, unspektakuläre Schattierungen des Heroischen. Der Alltagstypus des Helden ist der, der eine Haltung, Einstellung, Sache verkörpert - und für sie einsteht. Einstehen heißt: notfalls Nachteile dafür in Kauf nehmen. Nachteile gibt es viele: Unwillen von Freunden, Kollegenmobbing, Karriereeinbußen, Gefängnisaufenthalt. Folter und Tötung sind nur die äußersten. Bei ihnen spricht man von Martyrium. Das ist der Inbegriff des Heroischen. Aber das Heroische fängt viel bescheidener an. Sein Keim ist die alltägliche Zivilcourage.

Ohne Alltagshelden gibt es keine nachhaltige Orientierung für den Nachwuchs. Der Haken an den Sport- und Popstars ist: Man erlebt nur ihr flüchtiges, mediales Glanzbild. Die Basisarbeit der Identifikation aber braucht dauerhafte Nähe. Sie findet statt, wo man in persönlichem Kontakt zu jemandem aufblickt, der glaubwürdig etwas verkörpert, sich dann aber auch an ihm reibt und sich von ihm absetzt, um selbst jemand zu werden. Solange die Identifikation mit solchen Verkörperungen unerlässlich fürs Erwachsenwerden ist, wird es eine rundum postheroische Gesellschaft nicht geben. Und doch gibt es postheroische Tendenzen. So ist etwa der respektheischende uniformierte Typus des allzeit opferbereiten Soldaten und Staatsbediensteten verblasst. Zum Glück. Allerdings verblasst mit ihm auch das Vorbild überhaupt. Aus der Pädagogik ist dieser Begriff regelrecht eliminiert. Statt vorbildlicher Lehrer werden Lernbegleiter gewünscht, die bloß noch einspringen, wo es beim Lernen hakt. Eltern sollen Ermöglicher sein, aber ihren Kindern doch bitte nicht Einstellungen und Umgangsformen auf herausfordernde Weise vorleben.

Vorbildentzug betrügt Kinder um die Identifikation

Vorbilder firmieren heute unter Frontalunterricht. Der soll nicht mehr sein, weder zu Hause noch in der Schule. Doch Vorbildentzug betrügt Kinder und Jugendliche um die Identifikation, ohne die sie nicht mündig werden können. Kein Wunder, wenn sie später um so heftigeren Nachholbedarf verspüren und sich hemmungslos mit höheren Mächten identifizieren, an denen es in ihrer Umgebung gefehlt hat.

Auf diese Identifikationsungeübten, an entscheidendem Punkt infantil Gebliebenen hat es der Islamismus im Westen abgesehen. In seinen Ursprungsländern tut er indessen alles, um seine Klientel im Infantilismus festzuhalten. Deren ungeheurer Mut zu Selbstmordattentaten für Allah entspringt ungeheurem Identifikationsdrill. Sie handeln gewissermaßen präheroisch: ohne dass je eigene Einsicht in ihnen reifen konnte. Präheroismus und Postheroismus sind Extreme, die einander berühren. Beide können platte, blinde Identifikation befördern. Dagegen hilft aber nicht Identifikationsvermeidung, sondern nur gründliche Identifikationsübung von klein auf. Und dazu braucht es Helden. Vor allem die ganz alltäglichen. Als Hürde zur Selbstbestimmung sind sie unschätzbar. Doch, frei nach Brecht: Unglücklich das Land, wo Helden zu Götzen werden.

Christoph Türcke ist Philosoph und hat an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig gelehrt. In Kürze erscheint sein Buch "Umsonst leiden. Der Schlüssel zu Hiob" (zu Klampen Verlag).

© SZ vom 06.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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