Mein Gesicht gehört mir. Ich bin es, der mittels des Gesichts mit der Gesellschaft Kontakt aufnimmt - oder auch nicht. Ich entscheide, ob ich offen oder verschlossen dreinschaue, ob ich spreche oder schweige, ob und mit wem ich Blickkontakt aufnehme. Mein Gesicht ist das Fenster, durch das ich die Welt sehe und die Welt mich. Aber dieses Fenster ist mit Vorhängen ausgestattet, und die Kontrolle, ob sie auf- oder zugezogen werden, liegt bei niemand anderem als bei mir.
Wenn ich mein Gesicht für mich reklamiere, bitte ich damit nicht um Rücksichtnahme. Ich fordere mein Recht. Ist das unsozial? Natürlich! So ist das mit den Grundrechten: Sie sind nicht dazu da, aus mir einen guten Bürger zu machen, der dem Gemeinwohl nützt und seinen Teil fürs Große und Ganze beiträgt. Sie sind dazu da, mir einen Raum zu verschaffen, in dem ich für mich sein kann und gerade nicht für die anderen. Mein Recht auf meinen Körper und mein Recht auf meine Privatsphäre sind keine Privilegien, die mir für meine treuen Dienste als Teilnehmer an der Gesellschaft verliehen werden, sondern Grenzziehungen, die den Raum markieren, wo ich als Individuum unbehelligt bleibe.
Das heißt nicht, dass diese Grenzen undurchdringlich sind. Es gibt Situationen, in denen die Gesellschaft gute Gründe hat, meinen Körper in Fesseln zu legen, meine Wohnung zu durchsuchen und meine Freiheit ihren Zwecken unterzuordnen. Der französische Gesetzgeber hat von der öffentlichen Sicherheit bis zur Würde der Frau allerhand solcher Gründe zu finden versucht, um das Verhüllungsverbot zu rechtfertigen. Das Straßburger Gericht hat sie alle zurückgewiesen. Das einzige Argument, das er zuließ, war jenes "vivre ensemble". Die Mitbürger der Burkaträgerinnen hätten ein Recht, in einem "das Zusammenleben erleichternden Raum der Geselligkeit" zu leben, heißt es in dem Urteil. Gegen dieses Recht sei das Recht auf Privatsphäre und Religionsausübung abzuwägen und ziehe den Kürzeren.
Harter Kern im Rhetorikbausch
Dass der EGMR diese wattige Ideologie zu einem Argument geadelt hat, mit dem man Eingriffe in Privatsphäre und Religionsfreiheit rechtfertigen kann, ist ein Vorgang mit Auswirkungen weit über das Burkaverbot hinaus. Denn in dem Rhetorikbausch des "vivre ensemble" steckt ein stahlharter Kern. Er stellt das Recht, für sich zu sein, unter einen Geselligkeitsvorbehalt. Er macht das Bedürfnis, sich abzusondern, zu einer Zumutung, derer sich die Gesellschaft ab einem gewissen Punkt erwehren muss und darf. Nun ist sie es, die ein "Recht" geltend macht, ein Recht auf einen "das Zusammenleben erleichternden Raum der Geselligkeit", und das Individuum wird zu etwas, das diesen Raum bedrängt und beschränkt mit seinem Individualisierungsbedürfnis und sich dafür rechtfertigen muss.
Diese buchstäbliche Perversion der Grundrechtsidee ist keineswegs allein ein Phänomen der französischen und europäischen Rechtsordnung. Die deutsche Jurisprudenz ist für ganz ähnliche Gedanken durchaus auch empfänglich. "Der freie Mensch zeigt dem anderen sein Antlitz", heißt es im Sondervotum der drei konservativen Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff zum Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts 2003. Es stützt sich auf die Menschenwürde und nicht auf den Republikanismus, doch das läuft auf das Gleiche hinaus: Frei ist aus dieser Perspektive nur der soziale, der gesellige Mensch.
Aus dieser Perspektive wird die Burka tatsächlich zu einem vollkommen opaken Ding. Man sieht nicht mehr, man will nicht mehr sehen, was sich dahinter verbirgt: ein menschliches Gesicht.
Der Autor ist Jurist, Schriftsteller und Gründer des "Verfassungsblogs".