Debatte um Vollverschleierung:Zur Geselligkeit verpflichtet

Salafisten-Kundgebung in Offenbach

Der Europäische Gerichtshof hat das Burkaverbot in Frankreich für rechtmäßig erklärt. Zu Recht?

(Foto: dpa)

Wer sich verhüllt, zieht eine Barriere zwischen sich und seine Mitbürger, lautet die Rechtfertigung des Burkaverbots in Frankreich. Für das Individuum und seine Grundrechte verheißt die französische Gesetzgebung jedoch nichts Gutes.

Von Maximilian Steinbeis

Mein Pass ist eigentlich gar nicht mein Pass. Ich bin es, den er identifiziert. Aber er gehört mir nicht. Ein kleiner unauffälliger Satz auf der letzten Seite klärt mich auf: "Dieser Reisepass ist Eigentum der Bundesrepublik Deutschland." Das Gleiche gilt, wenn man der Logik des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg folgt, auch für einen Teil meines Körpers. Der Teil, der mich als Ich kennzeichnet, der mich erkennbar macht, mit dem ich spreche, sehe und höre, das Inter-Face zwischen mir und der Gesellschaft: mein Gesicht.

Am 1. Juli hat der EGMR in einem lange erwarteten Urteil das sogenannte Burkaverbot in Frankreich für rechtmäßig erklärt. An der Entscheidung hat sich seither eine lebhafte Debatte entzündet, in der es um Pluralismus und Minderheitenschutz geht, um Diskriminierung und Würde von Frauen und um den Islam. Ein Punkt, vielleicht der wichtigste, gerät dabei aber aus dem Blickfeld: Hier wird verhandelt, wo die Grenze zwischen Individuum und Gesellschaft verläuft. Das Ergebnis, das der Straßburger Gerichtshof gefunden hat, verheißt für das Individuum und seine Grundrechte nichts Gutes.

"Vivre ensemble"

Die Bezeichnung Burkaverbot ist, wenn man das französische Gesetz beim Wort nimmt, gar nicht richtig: Das Gesetz droht jedem, der sich mit verhülltem Gesicht in der Öffentlichkeit bewegt, Strafe an, egal ob es eine Skimaske, ein Damenstrumpf, ein Motorradhelm oder eine Sonnenbrille ist, die der Öffentlichkeit die freie Sicht auf sein Gesicht verwehrt. (Praktisch geht es natürlich fast ausschließlich um die islamische Vollverschleierung.) Das Hauptmotiv hinter diesem Gesetz ist eine utopische Ideologie, die unter dem Begriff "vivre ensemble" (zusammen leben) daherkommt. Erdacht haben sie in der Ära Sarkozy konservative Politiker - als Signal an die vom Front National verlockten Franzosen, dass auch im 21. Jahrhundert das republikanische Ideal der Brüderlichkeit noch etwas gilt. Zusammen zu leben ist etwas, was sich die freien und gleichen Bürger der Republik gegenseitig schuldig sind.

Im Mittelpunkt dieser Ideologie steht das Gesicht: Ich kann mit dir nur zusammen leben, wenn ich dein Gesicht sehe. Wer bist du? Zeig dich mir! Wer sich verhüllt, macht aus dieser Perspektive nicht einfach von seinem Recht Gebrauch, für sich zu sein. Er zieht eine Barriere zwischen sich und seine Mitbürger. Und wenn er sich klagend auf sein Recht auf Privatsphäre, auf freie Religionsausübung beruft, dann wird er scharfen Tons daran erinnert, dass er diese Rechte ja wohl gerade der Gesellschaft freier und gleicher Bürger zu verdanken hat, der er sich so hartnäckig entzieht.

In diesem Moment wird mein Gesicht zu einer Art Reisepass: Ich trage es, mich identifiziert es, aber es gehört mir nicht mehr. Ich muss keine verschleierte Muslima sein, um diese Beschlagnahme eines Teils meines Körpers als Vergewaltigung zu empfinden.

Perversion der Grundrechtsidee

Mein Gesicht gehört mir. Ich bin es, der mittels des Gesichts mit der Gesellschaft Kontakt aufnimmt - oder auch nicht. Ich entscheide, ob ich offen oder verschlossen dreinschaue, ob ich spreche oder schweige, ob und mit wem ich Blickkontakt aufnehme. Mein Gesicht ist das Fenster, durch das ich die Welt sehe und die Welt mich. Aber dieses Fenster ist mit Vorhängen ausgestattet, und die Kontrolle, ob sie auf- oder zugezogen werden, liegt bei niemand anderem als bei mir.

Wenn ich mein Gesicht für mich reklamiere, bitte ich damit nicht um Rücksichtnahme. Ich fordere mein Recht. Ist das unsozial? Natürlich! So ist das mit den Grundrechten: Sie sind nicht dazu da, aus mir einen guten Bürger zu machen, der dem Gemeinwohl nützt und seinen Teil fürs Große und Ganze beiträgt. Sie sind dazu da, mir einen Raum zu verschaffen, in dem ich für mich sein kann und gerade nicht für die anderen. Mein Recht auf meinen Körper und mein Recht auf meine Privatsphäre sind keine Privilegien, die mir für meine treuen Dienste als Teilnehmer an der Gesellschaft verliehen werden, sondern Grenzziehungen, die den Raum markieren, wo ich als Individuum unbehelligt bleibe.

Das heißt nicht, dass diese Grenzen undurchdringlich sind. Es gibt Situationen, in denen die Gesellschaft gute Gründe hat, meinen Körper in Fesseln zu legen, meine Wohnung zu durchsuchen und meine Freiheit ihren Zwecken unterzuordnen. Der französische Gesetzgeber hat von der öffentlichen Sicherheit bis zur Würde der Frau allerhand solcher Gründe zu finden versucht, um das Verhüllungsverbot zu rechtfertigen. Das Straßburger Gericht hat sie alle zurückgewiesen. Das einzige Argument, das er zuließ, war jenes "vivre ensemble". Die Mitbürger der Burkaträgerinnen hätten ein Recht, in einem "das Zusammenleben erleichternden Raum der Geselligkeit" zu leben, heißt es in dem Urteil. Gegen dieses Recht sei das Recht auf Privatsphäre und Religionsausübung abzuwägen und ziehe den Kürzeren.

Harter Kern im Rhetorikbausch

Dass der EGMR diese wattige Ideologie zu einem Argument geadelt hat, mit dem man Eingriffe in Privatsphäre und Religionsfreiheit rechtfertigen kann, ist ein Vorgang mit Auswirkungen weit über das Burkaverbot hinaus. Denn in dem Rhetorikbausch des "vivre ensemble" steckt ein stahlharter Kern. Er stellt das Recht, für sich zu sein, unter einen Geselligkeitsvorbehalt. Er macht das Bedürfnis, sich abzusondern, zu einer Zumutung, derer sich die Gesellschaft ab einem gewissen Punkt erwehren muss und darf. Nun ist sie es, die ein "Recht" geltend macht, ein Recht auf einen "das Zusammenleben erleichternden Raum der Geselligkeit", und das Individuum wird zu etwas, das diesen Raum bedrängt und beschränkt mit seinem Individualisierungsbedürfnis und sich dafür rechtfertigen muss.

Diese buchstäbliche Perversion der Grundrechtsidee ist keineswegs allein ein Phänomen der französischen und europäischen Rechtsordnung. Die deutsche Jurisprudenz ist für ganz ähnliche Gedanken durchaus auch empfänglich. "Der freie Mensch zeigt dem anderen sein Antlitz", heißt es im Sondervotum der drei konservativen Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff zum Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts 2003. Es stützt sich auf die Menschenwürde und nicht auf den Republikanismus, doch das läuft auf das Gleiche hinaus: Frei ist aus dieser Perspektive nur der soziale, der gesellige Mensch.

Aus dieser Perspektive wird die Burka tatsächlich zu einem vollkommen opaken Ding. Man sieht nicht mehr, man will nicht mehr sehen, was sich dahinter verbirgt: ein menschliches Gesicht.

Der Autor ist Jurist, Schriftsteller und Gründer des "Verfassungsblogs".

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