Süddeutsche Zeitung

Debatte um Günter Grass:Die Überlegenheit des Schülersoldaten

Warum uns Günter Grass zeigt, wo wir herkommen - und deshalb ein würdiger Nobelpreisträger aus Deutschland ist.

Heinz Bude

Sie bilden immer noch das Fundament der Republik: Die zwischen 1926 und 1929 geborenen Angehörigen der Flakhelfer-Generation. Sie haben die gesellschaftliche Nullstellung von 1945 als biografische Chance ergriffen und als kollektive Kondition begriffen und aus diesem Lebensgefühl heraus die Ausdrucksmittel für die Kontingenz des Ganzen gefunden. Sie gehen auf die achtzig zu und liefern nach wie vor den Stoff für unsere kollektive Selbstbeschäftigung.

Die Nachgeborenen stehen mal staunend bewegt, mal ärgerlich erregt vor diesem Umstand und fragen sich, woher das kommt und wie diese Alten das machen.

Man könnte an eine Verschwörung glauben, wenn man sieht, wie sich Hans Magnus Enzensberger (Jahrgang 1929), Jürgen Habermas (Jahrgang 1929) oder Joseph Ratzinger (Jahrgang 1927) die Bälle zuwerfen. Sie deuten punktgenau das Phänomen der ,,radikalen Verlierer'', werfen gegenwartsdiagnostisch präzise die Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen auf oder beschreiben die Lage einer gefährdeten Vernunft in einer Welt verwüsteter Seelen.

Oder sie warten mit einer biografischen Information auf, an der niemand vorbeigehen kann. Sie beherrschen die Szene wie keine Generation nach ihnen.

Nehmen wir den aktuellen Fall von Günter Grass (Jahrgang 1927) als Grundlage für eine Erklärung: Der erste Teil seiner Erinnerungen soll erscheinen. Im Vorfeld offenbart der Nobelpreisträger eine schmachvolle Wunde: Wie er sich als Fünfzehnjähriger freiwillig zur Wehrmacht gemeldet habe und bei der Waffen-SS gelandet sei, um als letztes Aufgebot eingesetzt zu werden. Sechzig Jahre hat er dazu geschwiegen, und jetzt zeigt er uns, wo wir herkommen.

Denn darum geht es bei diesem lebensgeschichtlichen Geheimnis des ewigen ,,Flüchtlingskindes'': Dass wieder die Unwahrscheinlichkeit unseres ganzen Herkommens nach einem verlorenen Krieg und einem vollbrachten Völkermord zur Debatte steht.

Darin liegt die historische Bedeutung dieses biografischen Zufalls. Wie konnte aus einem verführten, begeisterten, zum Selbstopfer bereiten Jungsoldaten ein fröhlicher Mitspieler Louis Armstrongs, ein engagierter Trommler für den Widerständler Willy Brandt und ein verlässlicher Verteidiger der besten Traditionen werden, die das Zivile in der Bundesrepublik besitzt?

Kleine Skepsis, große Haltung

In der Erregung über Grass' Schweigen steckt der Unglaube über uns selbst. Die Bundesrepublik hat sich aus einem sehr kontaminierten Ursprung heraus entwickelt.

Aus diesem Ursprung heraus sind Werke wie ,,Die Blechtrommel'', ,,Verteidigung der Wölfe'', ,,Strukturwandel der Öffentlichkeit'' oder ,,Einführung ins Christentum'' entstanden. Sie belegen, wie im Nachkriegsdeutschland aus der Erfahrung einer dunklen Vergangenheit Modelle einer offenen Zukunft entstanden sind.

Das hat alles Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre stattgefunden, als es in Welten ohne Gewähr für den intellektuellen Experimentalismus keine Alternative gab. Die Flakhelfer aber hatten früh gelernt, sich in einem historischen Raum von Uneindeutigkeiten und Ungewissheiten zu bewegen. Das hat ihre Skepsis so klein und präzise und ihre Haltung so bedingungslos und unnachgiebig gemacht.

Diese Einzigartigkeit haben auch die Nachgeborenen zu akzeptieren, wenn sie jetzt Klage darüber führen, dass die intellektuelle Bundesrepublik dem historischen Umkreis der Denk- und Gefühlswelt dieser Generation immer noch nicht entwachsen ist.

Welche biografische Information hätten denn ein Peter Schneider oder ein Wolf Wondratscheck, ein Rainald Goetz oder ein Matthias Politycki zu bieten? Die einen könnten vielleicht über ihr Spiel mit dem Terrorismus berichten, die anderen müssen schon auf Spezialitäten ihrer sexuellen Vorlieben zurückgreifen. Aber wen interessiert das, und was sagt das über uns und die Verfassung unserer Gesellschaft?

Es gibt eine besondere Disposition bei den Angehörigen der Flakhelfer-Generation, die ihnen bis auf den heutigen Tag einen ungeheuren Deutungsvorteil vor den nachgeborenen Generationen sichert. Er verdankt sich ihrer Erfahrung des Systemwechsels.

Sie haben beobachtet, wie Verhaltensmuster ausgetauscht und Identifikationsobjekte gewechselt wurden. Trotzdem haben sie nie vergessen, was sie als Schülersoldaten zu Ende des Krieges miterlebt hatten.

Diese Kenntnis des Menschenmöglichen hat ihren Blick für Phänomene geschärft, die uns Nachgeborenen heute als unglaubliche zivilisatorische Regressionen erscheinen. Sie sind innerlich geeicht auf Tatbestände, die wir mit Begriffen wie Terrorismus, Fundamentalismus und Ethnizismus eher hilflos einzufangen versuchen.

Es ist die Tatsache, dass Günter Grass das Geheimnis seiner jugendlichen soldatischen Begeisterung so lange für sich behalten konnte, die ihn zu einem echten Repräsentanten der Bundesrepublik macht.

Sie verweist auf einen Komplex der Verborgenheit, der nicht nur sein Werk durchdringt, sondern auch seiner Person ihre spezifische historische Glaubwürdigkeit verleiht. Deshalb ist Günter Grass ein würdiger Nobelpreisträger aus Deutschland.

Der Autor lehrt Soziologie an der Universität Kassel. Zuletzt erschien von ihm die Monografie ,,Der unternehmerische Lehrer'' (Kassel 2004).

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Quelle:
SZ vom 17.8.2006
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