Süddeutsche Zeitung

Debatte um Eugen-Gomringer-Gedicht:"Das lyrische Ich ist auffällig abwesend"

Wenn schon über ein Gedicht debattiert wird, dann bitte richtig: Ein Professor für germanistische Literaturwissenschaft interpretiert Eugen Gomringers "Avenidas".

Protokoll von Kathleen Hildebrand

Es wird ja eher selten so hitzig über ein Gedicht diskutiert wie derzeit über Eugen Gomringers "Avenidas". Was bisher geschah: Erst wurde es an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule angebracht und nun soll es wieder überstrichen werden, weil der Asta der Hochschule es diskriminierend und sexistisch findet - was wiederum einige Menschen zensorisch finden. Ganz schön viel Aufregung für ein Stück konkreter Poesie aus dem Jahr 1953 - dabei lernt man doch schon in der Schule, dass es für dasselbe Gedicht immer mehrere Interpretationsmöglichkeiten gibt.

Ralph Müller, Professor für germanistische Literaturwissenschaft an der Uni Fribourg (Schweiz) und Fellow der DFG-Kolleg-Forschergruppe "Lyrik in Transition" an der Universität Trier, hat "Avenidas" mit drei verschiedenen theoretischen Ansätzen interpretiert.

1. Hermeneutischer Intentionalismus

"Mit diesem Interpretationsansatz stellt man sich die Frage, was der Autor mit seinem Text - aller Wahrscheinlichkeit nach - zu verstehen geben wollte. Von Eugen Gomringer gibt es umfangreiche Selbstzeugnisse zu seiner Dichtung. Er ist ein Vertreter der konkreten Poesie und im Fall von "Avenidas" haben wir es mit einem Untergenre davon zu tun, mit einer "Konstellation". Die Konstellation stellt eine sehr kleine Auswahl von Wörtern in Gruppen zusammen, damit diese miteinander in Beziehung treten können. "Avenidas" war 1953 übrigens die erste von Gomringer publizierte Konstellation.

Gomringer sieht Gedichte als Gebrauchstexte, die von ihm sogenannte "Denkspiele" auslösen sollen. Als Leser ist man aufgefordert, der Beziehung zwischen den Wörtern nachzugehen. Im Fall dieses Gedichts sind das Worte aus dem Spanischen, sparsam ausgewählt und in Zweierzeilen zueinander gestellt - das Gedicht hat einen stark minimalistischen Ansatz. Damit möchte Gomringer auch der Sprache der Gegenwart entsprechen, die zum Beispiel von Schlagzeilen geprägt ist. Es geht Gomringer damit einerseits um den Klang der Worte: Sie sind phonetisches Material, deshalb muss dieses Gedicht auch spanisch bleiben, auch wenn Gomringer für die Worte Übersetzungen gegeben hat.

Das Schriftbild ist aber genauso wichtig für das Gedicht, das sich festhängen soll im Kopf des Lesers. Das ist gut gelungen, das Schriftbild prägt sich ein und man erinnert sich leicht an den Text. Eines aber sind die Worte nicht, nämlich Metaphern - ihr Wirklichkeitsbezug spielt für Gomringer keine größere Rolle. Es geht in "Avenidas" also nicht um eine konkrete Straßenszene, sondern um die Beziehung zwischen Wörtern. Gomringer eine sexistische Intention zu unterstellen wäre - auch vor dem Hintergrund des Gesamtwerks - abwegig.

2. New Criticism

Der New Criticism fragt, wie wir ein Gedicht verstehen können, wenn wir ganz von seinem Autor und dessen Intention absehen. Wenn wir es einfach als losgelöstes Kunstwerk betrachten. Bei "Avenidas" schauen wir dann vor allem auf die Form: Im ersten Verspaar fällt das erste Stichwort, "avenidas" (Alleen), dann wird es wiederholt, durch ein "und" mit einem neuen verbunden, in diesem Fall "flores" (Blumen). Im zweiten Verspaar wird "flores" wiederholt und erneut mit einem anderen Wort verbunden, mit "mujeres" (Frauen).

Jedes Element wird also zunächst auf einer Zeile vereinzelt genannt, danach in Verbindung mit einem neuen Gegenstand. Wenn wir dieses Schema weiterdenken, dann würde im dritten Verspaar "mujeres" wiederholt - das ist aber nicht der Fall, hier weicht das Gedicht vom Schema ab und wiederholt noch einmal "avenidas". Die Abweichung vom Schema erzeugt eine Spannung, die sich auf das letzte Verspaar überträgt. Dort werden alle drei Wörter noch einmal wiederholt und das vierte Element kommt dazu: der "admirador" (Bewunderer). Das letzte verbindende "und" (spanisch "y") bleibt auf der vorletzten Zeile, das erzeugt eine kurze rhythmische Pause.

Interessant ist für diese formale Interpretation vor allem die Frage nach der Äußerungsinstanz: Wer spricht hier? Das lyrische Ich, wie man im Deutschunterricht sagen würde, ist auffällig abwesend. Wer die Beobachtungen dieses Gedichts macht, wird nicht deutlich. Ich würde sagen: Es spricht nicht der "admirador". Er ist vielmehr selbst Teil der Konstellation. Aber auch wenn man annimmt, dass er hier der Sprecher ist, dann hat er eine extreme Distanz zu sich selbst. Er guckt sich quasi selbst an und spricht in der dritten Person von sich. Es gibt auch keinerlei Hinweis auf Emotionen oder Wertungen.

In dieser Interpretationsweise könnte man allerdings im Gegensatz zur traditionellen intentionalistischen schon sagen, dass hier das Bild einer urbanen und - durch die Blumen - sehr bunten Straßenszene gezeichnet wird, verbunden vielleicht mit der Anweisung an den Leser, selbst zum "admirador" zu werden und Schönheit zu erkennen: Nicht nur in Frauen, Straßen und Blumen, sondern immer und überall werden wir in dem Moment, in dem wir etwas betrachten, seiner Schönheit gewahr. Insbesondere in einer minimalistischen Wort-Konstellation. Auch in dieser Sichtweise geht es im Gedicht weniger um Voyeurismus als um einen Aufruf zur Kunstbetrachtung.

3. Geschlechtertheorie

Eine geschlechtertheoretische Interpretation von "Avenidas" würde auf die Entgegensetzung von Frau und Mann sowie die Zurücksetzung der Frauen in diesem Gedicht hinweisen. Der "admirador", also der Mann, stellt sich, da er quasi die Pointe des Gedichts ist, in den Vordergrund. Die "mujeres" hingegen verschwinden im Hintergrund. Sie werden zum Ornament dieser Szene gemacht und zwar konsequent. Weil sie den "avenidas" (Sachen) und "flores" (Natur) gleichgestellt werden - aber eigentlich nicht einmal das, denn sie tauchen immer nur am Versende auf. Ornament zu sein entspricht der traditionellen Geschlechterrolle der Frau, genau wie die Nähe zu den Blumen ein weibliches Geschlechterstereotyp ist.

Außerdem könnte durch den "admirador" eine latente Spannersituation gesehen werden. Für die Debatte über das Gedicht scheint mir jedenfalls der Ort, an dem es in Berlin zu lesen ist, relevant zu sein, nämlich tatsächlich auf einer Straße. Was den Asta der Hochschule zu stören scheint, ist, dass den Frauen durch das Gedicht immer gegenwärtig gehalten wird, dass ihnen dort Bewunderer "auflauern" könnten.

Im Sinne der Gebrauchslyrik, für die Eugen Gomringer steht, könnte man außerdem sagen: Diese Wortwahl liegt hier eigentlich fern, weil es keinerlei Bezug zur Nutzung der "Straßen" gibt, zum Beispiel für Erledigungen. Haben die Frauen nichts Besseres zu tun, als zur Verschönerung der Straße beizutragen? Auch in diesem Sinne werden sie einfach zur Staffage gemacht."

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