Debatte über Valery Gergiev:Ich bin doch nur ein Musiker

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Sein offener Brief ist am ehesten eine Bitte um Verständnis: Valery Gergiev, bald Chef der Münchner Philharmoniker. (Foto: Marc Müller/dpa)

Er gilt als herausragender Dirigent, trotzdem wird Valery Gergiev in Bayern nicht mit offenen Armen erwartet - seine politischen Ansichten sind umstritten. Kann der offene Brief des designierten Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker die Wogen glätten? Im Gegenteil: Jetzt muss man erst recht über das Verhältnis von Kunst und Politik diskutieren.

Von Rainer Erlinger

Brücken braucht man dort, wo es Gräben gibt. Zum Beispiel in München, wo sich ein Graben aufgetan hat zwischen der Stadt und Valery Gergiev, der 2015 Chefdirigent der Münchner Philharmoniker werden soll.

Befördert wurde das Hindernis unter anderem durch Gergievs Äußerungen und seine politische Haltung - in erster Linie zum russischen Vorgehen auf der Krim und zur homophoben Gesetzgebung in Russland. "Musik ist der beste Brückenbauer!" In diesem geradezu beschwörend klingenden Statement kulminiert nun der offene Brief, mit dem Gergiev die Wogen glätten will (SZ vom 21.

Mai). Wobei manches von Anfang an unklar schien: Ein Interview in der niederländischen Zeitung de Volkskrant mit umstrittenen Äußerungen Gergievs zu diesem Gesetz wurde zwar freigegeben - aber dann hieß es missverständlich, das Ganze sei ein Missverständnis.

Die öffentliche Unterstützung von Putins Krimpolitik durch 300 Künstler hingegen hat Gergiev zweifelsfrei unterschrieben. Und nun eben auch den offenen Brief an die Münchner Abonnenten. Man muss ihn mehrmals lesen, will man herauszufinden, was Gergiev wirklich denkt - aber am Ende hilft nicht einmal das. Man kann fast nur eines feststellen: Ein Dementi von was auch immer ist es nicht. Eine wirkliche Positionierung auch nicht, außer in dem Sinne, dass er es sich mit niemandem verderben will.

Am ehesten ist es eine Bitte um Verständnis. Er wirbt für seine Position zwischen unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen "kulturellen Orientierungen". Auch will er, dass man die "Verantwortung" berücksichtige, die er für die Erhaltung der musikalischen Tradition in St. Petersburg übernommen habe und die nun eben zu Verwicklungen führen könne. Und er fordert dazu auf, seine unterschiedlichen Rollen zu sehen, die als "Musiker und Dirigent" - und die als Russe.

Kompliment an die Freiheit

Über allem schwebt gewissermaßen eine Bitte um Toleranz, die über den Brief und sogar über die Causa Gergiev hinausweist.

Man reibt sich verwundert die Augen: Ein Vertreter konservativer Haltungen bittet die Verfechter alternativer Lebensformen, der Menschenrechte und der Freiheit um Toleranz. Nicht umgekehrt. Verkehrte Welt?

Eigentlich ist es das schönste Kompliment, dass man der Freiheit machen kann, anscheinend hat sie sich so weit durchgesetzt, dass Ihre Position nun die mächtigere ist - ginge es dabei nicht gerade auch um Länder, in denen es diese Freiheit eben nicht gibt; oder, so wäre zu hoffen, nur noch nicht gibt.

Und man denkt an eine andere Personalie: die des kurzzeitigen CEO von Mozilla, Brendan Eich. Eich musste Anfang April nach nur wenigen Wochen an der Spitze der Software-Organisation, die unter anderem den weit verbreiteten Browser Firefox entwickelt hat, unter Druck zurücktreten.

Es war bekannt geworden, dass er vor sechs Jahren 1000 Dollar für eine Organisation gespendet hatte, die sich erfolgreich für einen Verfassungszusatz zum Verbot von gleichgeschlechtlichen Ehen in Kalifornien eingesetzt hatte. Auch er hatte, wie Gergiev, niemanden persönlich diskriminiert, es ging um die intolerante Haltung, die sich in dieser Spende ausdrückte.

In diesem Zusammenhang entwickelte sich in den USA eine Diskussion darüber, ob es gerechtfertigt sei, jemanden dafür zu "bestrafen", dass er eine andere Meinung vertritt. Die Überschrift eines Aufrufs von 58 bekannten Unterstützern der gleichgeschlechtlichen Ehe, die sich kritisch mit dem erzwungenen Rücktritt von Eich auseinander setzten, lautete: Freiheit zu heiraten, Freiheit anderer Meinung zu sein - Warum wir beides haben müssen.

Fortschritt, so die Argumentation, kann es nur in einer offenen Gesellschaft geben. Deren Werte aber würden verletzt, wenn die Verfechter einer fortschrittlichen Haltung, sobald sich diese durchgesetzt hat, Andersdenkende bestrafen statt überzeugen.

Die Eich-Verteidiger beziehen sich auf den spiegelbildlichen Fall von Franklin Kameny, der 1957 seinen Job verloren hatte. Denn er war homosexuell. Man dürfe nun nicht genauso, wenn auch mit anderen Vorzeichen, agieren.

Die Gegenseite verweist unter anderem darauf, dass man schließlich auch nicht rassistische Haltungen mit Meinungsfreiheit verteidigen könne. Und beide Seiten berufen sich darauf, dass gerade eine Organisation wie Mozilla aus dem Open-Source-Bereich, dem Bereich der freien Software, die Freiheit hoch halten müsse. Die einen stellen die Freiheit der Lebensformen in den Vordergrund, die anderen die Meinungsfreiheit.

Ist Musik wirklich so unpolitisch?

Bei Valery Gergiev kommt jedoch noch eine weitere Dimension ins Spiel. Bei seinem Konzert im Dezember letzten Jahres standen Demonstranten vor dem Gasteig. Soweit keine Überraschung, das war auch schon in London und New York so. Aber sie intonierten den Gefangenenchor aus Verdis Oper "Nabucco" - und wiesen somit auf eine bislang wenig diskutierte Frage hin: Ist Musik wirklich so unpolitisch und lassen sich Kunst und Politik tatsächlich in dem Maße trennen, wie es sich Gergiev wünscht?

Der Gefangenenchor dient dafür als Beispiel. In ihm besingen die hebräischen Sklaven ihre Sehnsucht nach Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft. Übertragen wurde er zur inoffiziellen Hymne des Kampfes der Italiener um ein geeintes Italien.

Was geschähe nun, kann man sich fragen, in den Köpfen der Zuhörer, wenn Gergiev den Gefangenenchor dirigiert? Und auch in denen der Orchestermusiker? Welchen Einfluss hat es generell auf Aufführungen und ihre Rezeption, wenn der Dirigent eine, vorsichtig ausgedrückt, zurückhaltende Einstellung zur Freiheit hat?

Oder Tschaikowsky: Der russische Komponist wurde wegen seiner Homosexualität angefeindet. Bei einer Pressekonferenz war diese Tatsache Gergiev entgegengehalten worden, als dieser das russische Homosexuellengesetz mit den Worten verteidigte, man solle Kinder nicht mit "nichttraditionellen Lebensformen" behelligen, sondern eher über Mozart sprechen.

Was bedeutet das nun alles für eine Aufführung und Interpretation seiner Werke - und sei sie technisch noch so furios? Das Argument, Gergiev sei ein herausragender Musiker - was unwidersprochen bleiben soll - und deshalb sei seine private Haltung zweitrangig bis irrelevant, klingt wie eine Verteidigung der Musik, entwertet sie jedoch in Wirklichkeit, reduziert sie in Richtung Technik.

Gerade die interpretatorische Kunst kann man sich kaum ohne Einflüsse des Kontextes und der Rezeption denken. Sie davon losgelöst zu sehen scheint kunsttheoretisch so rückwärtsgewandt wie die Haltungen, für deren Verständnis Gergiev in seinem Brief wirbt.

Gergiev plädiert dort auch für einen Dialog, den die Musik ermöglichen solle. Das ist richtig, nur fragt man sich, zwischen wem und worüber der in der Münchner Philharmonie stattfinden soll. Will Gergiev mittels Musik dem Münchner Publikum die russische Haltung zu Homosexualität und Autorität nahebringen? Oder meint er damit, dass er seine Haltung ändern wird, wenn er erst einmal in der liberalen Umgebung Münchens arbeitet?

Musik als Grundlage für Dialog lässt an einen anderen Dirigenten denken, Daniel Barenboim, Generalmusikdirektor der Staatsoper unter den Linden in Berlin. Barenboim nutzt die Musik - dezidiert politisch - in vielen Projekten, um den Dialog voranzubringen. Zum Beispiel beim West-Eastern Divan Orchestra, in dem junge Musiker aus Israel und arabischen Ländern Konzerte an verschiedenen spannungsreichen Orten geben, unter anderem in Ramallah oder an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea.

Barenboim scheut sich nicht, mit seinen Aktionen bei Regierungen anzuecken. Wenn es Gergiev ernst ist mit dem Dialog, wie könnte der dann aussehen? Vielleicht ein Konzert mit Pussy Riot in der Münchner Philharmonie? Das wäre tatsächlich ein neuer und kühner Dialog - künstlerisch wie politisch.

"Ich bin ein vielbeschäftigter Künstler"

In einer Pressekonferenz im Dezember 2013 in München hatte Gergiev betont, er sei Musiker und kein Politiker, er wolle sich zu dem Anti-Schwulen-Gesetz in seiner Heimat nicht äußern, er kenne dieses Gesetz nicht und verstehe es auch nicht: "Ich bin ein vielbeschäftigter Künstler." Wenn man diese Verteidigung liest, kommt einem ein anderes Zitat in den Sinn: "Was wollen die Menschen von mir? Warum verfolgen sie mich? Weshalb sind sie so hart? Ich bin doch nur ein ganz gewöhnlicher Schauspieler!"

Tatsächlich würden sich diese Worte, ersetzte man "gewöhnlicher Schauspieler" durch "ungewöhnlicher Musiker", fast nahtlos in die Äußerungen Gergievs einfügen. Es handelt sich um die Schlussworte aus Klaus Manns Roman "Mephisto", mit denen sich Hendrik Höfgen für sein anbiederndes Verhalten im Nationalsozialismus rechtfertigt.

In der Figur des Hendrik Höfgen war unschwer Gustaf Gründgens zu erkennen, und diese Darstellung führte dazu, dass die Veröffentlichung des Romans, weil sie eine schwere Herabwürdigung der Person Gründgens darstelle, aus Rücksicht auf dessen postmortales Persönlichkeitsrecht in der Bundesrepublik untersagt wurde.

Allerdings geht es hier nicht um den Vergleich politischer Systeme, sondern um zwei Künstler und ihre Haltung zu Politik und Kunst. Valery Gergiev scheint mit seiner Haltung Chefdirigent in München werden zu können.

© SZ vom 02.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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