Süddeutsche Zeitung

Debatte über Digitalisierung:Der Mythos vom "global village" stößt an seine Grenzen

Die Behauptung, digitale Technologien seien die natürlichen Kräfte des Fortschritts, war immer nur Propaganda der USA. Trumps Handelskriege machen das nun offensichtlich.

Gastbeitrag von Evgeny Morozov

Während Trumps Amerika einem wieder auflebenden China gegenübersteht - eine Konfrontation, bei der die Welt einem Handelskrieg entgegentaumelt, der sich auf traditionell hergestellte Produkte wie Stahl konzentriert - scheint sich Washington der Mechanismen, die seine Dominanz in der Ära nach dem Kalten Krieg sicherstellten, nicht bewusst zu sein.

Diese Mechanismen basierten nicht nur auf Amerikas militärischer Stärke, sondern auch auf einer Ideologie, die die Wahrscheinlichkeit von Widersprüchen gegen die amerikanische Herrschaft minimierte.

US-Politiker wussten genau, dass das Kennzeichen einer effektiven Hegemonie die Unsichtbarkeit ihrer Operationen ist. Andere Länder zu veranlassen, das zu tun, was man will, ist einfacher, wenn sie glauben, dass es nicht nur in ihrem Interesse liegt, sondern auch dem natürlichen Lauf der Geschichte und des Fortschritts entspricht. Wieso sollte man Ressourcen verschwenden, um den anderen die Vorteile des Kolonialismus beizubringen, wenn man sie durch Märchen über den gegenseitigen Nutzen des freien Handels zur Kapitulation bewegen kann?

Von all den Mythen, die Amerikas Hegemonie in den vergangenen drei Jahrzehnten festigten, war der Mythos der Technologie der stärkste. Er präsentierte Technologie als eine natürliche und neutrale Kraft, die Machtungleichgewichte zwischen Ländern beseitigen würde. Man konnte sie nicht verändern oder umleiten; man konnte sich ihr nur anpassen. Wer sie besaß, war unwichtiger, als wer sie benutzte.

Es entstand ein "global village", ein Gefallen der Netzwerke und Bits. Man konnte in vielen Sprachen vom "Ende der Geschichte" sprechen, aber keine benannte es so wortgewandt wie die Sprache der Technologie. Nie zuvor hatte man so begeistert vom Kapitalismus sein können, ohne dessen Namen zu nennen. Für die Leute in Davos war es deutlich ungefährlicher, die Menschen aufzufordern, sich den Innovationen der Technologie anzupassen, als sich den Launen des Marktes zu beugen.

Solche Redeweisen haben lange Zeit die grundlegenden Wahrheiten über das Verhältnis von Technologie und Macht verschleiert. Erstens war das "global village" nur in dem Maße global, wie es den USA nützte.

Die Standards und Netzwerke, die das digitale Universum antreiben, sind nicht neutral

Zweitens war nichts natürlich oder neutral an den Standards, Netzwerken und Protokollen, die das digitale Universum antrieben; die meisten entstanden durch den Kalten Krieg und zielten darauf, den amerikanischen Einfluss in neue Bereiche auszudehnen.

Drittens war der Eintritt in ein einzelnes, unverletzbares Netzwerk mit scheinbar universellen Prinzipien kein Freifahrtsschein zur nationalen Befreiung. Von Cyberwaffen bis zur künstlichen Intelligenz und Überwachung haben die Interkonnektivität und die Digitalisierung neue Ungleichgewichte geschaffen, statt alte zu beseitigen.

Trotzdem diente diese Ideologie - die Ideologie des Internets - US-Interessen und erlaubte es Washington, Zeit zu gewinnen und die größten Technologiefirmen der Welt zu entwickeln. 2018 neigt sich diese Ideologie ihrem Ende entgegen.

Das heutige "globale village" ist sehr viel weniger global. Man muss sich nur die digitalen Plattformen anschauen, die durch ihre Fähigkeit, überall zu florieren, der Höhepunkt der amerikanischen Technologie-Hegemonie sein sollten. Der Plan funktionierte; bis das Silicon Valley herausfand, dass Amerikas engste Verbündete keine Skrupel hatten, Akteure zu finanzieren, die sich der globalen Expansion der US-Tech-Giganten entgegenstellen.

Uber ist ein Paradebeispiel. Seine globalen Ambitionen wurden eingedämmt durch Ola in Indien, Didi in China, 99 in Brasilien, Grab in Südostasien und Yandex.Taxi in Russland. Yandex ausgenommen, wurden all diese Herausforderer - inklusive Uber selbst - durch Japans Softbank finanziert. Letztendlich wurden sie in deren "Vision Fund" überführt, der Geld von Amerikas engsten Verbündeten, von Saudi-Arabien bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten, zusammenlegt. Als Uber in astronomischer Geschwindigkeit Geld verlor, kapitulierte das Unternehmen.

Nach der Ära Trump wird den USA nur eine Option bleiben

Chinas Aufstieg stellte viele andere Mythen hinter Amerikas Technologie-Hegemonie infrage. Zunächst stritt man erbittert um die einst neutralen Standards, wie das 5G-Netz. Peking drängte auf Regeln, die seinen eigenen Vorkämpfern zugutekommen sollten. Die globalen Ambitionen von Huawei und ZTE sowie das gewaltige Wachstum von Tencent, Baidu und Alibaba zwangen Washington, das Undenkbare zu tun: ökonomische Macht auszuüben und so die eigene Hegemonie sichtbar zu machen. Trumps Veto gegen die Fusion von Qualcomm und Broadcom, die fast tödliche Zerrüttung von ZTE durch die Blockade der amerikanischen Lieferanten, das kontroverse Memo des Weißen Hauses zur Nationalisierung von Amerikas 5G-Netzwerk: das alles konnte man natürlich als Bestätigung von Washingtons andauernder Überlegenheit deuten.

Wer verteidigt die Interessen des globalen Kapitalismus?

Seiner vielen Mythen beraubt, wird es für Amerika jedoch nicht einfach sein, andere Länder davon zu überzeugen, ihre Industrien von US-Firmen ersetzen zu lassen, die Entwicklung eigener KI-Fähigkeiten aufzugeben, niemals die Vorschriften des freien Datenflusses zu hinterfragen, die amerikanische Unterhändler sorgsam in wichtige Handelsabkommen eingefügt haben. Bedenkt man, dass China das genaue Gegenteil getan hat und erfolgreich war: Wer würde bereitwillig einer US-Führung folgen?

Die Grenzen der amerikanischen Technologie-Hegemonie waren für Obama offensichtlich: Er bestärkte digitale Mythen wie die "Internetfreiheit" und versuchte gleichzeitig, Chinas Expansion im Rahmen des von den USA geführten globalen Handels einzudämmen.

Trump beendete diese Mythologie. Langfristig beschädigte er auch die technologische Vorherrschaft, indem er Forschungsbudgets strich, Immigration begrenzte (die so wichtig für die Tech-Industrie ist) und sogar die unmittelbare Demontage von Chinas ZTE verhinderte.

Nach der Ära Trump wird den USA nur eine Option bleiben: weiterhin die globale Wirtschaftsordnung anzufechten, die seine eigenen globalen Ambitionen behindert, und umfassende Anti-Peking-Strategien zu entwickeln, um seine anderen Verbündeten dafür zu bestrafen, dass sie sich auf Chinas Tech-Giganten verlassen.

Wenn der Kalte Krieg der Technologie ernsthaft ausbricht, wird es nicht so klar sein, welche Seite die Interessen des globalen Kapitalismus verteidigt.

Aus dem Englischen von Jonas Lages

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Quelle:
SZ vom 28.06.2018/khil
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