Debatte:Sie wollten bloß eine andere Globalisierung

WTO-PROTEST IN SEATTLE 1999

Demonstrationen gegen die Konferenz der Welthandelsorganisation in Seattle im Dezember 1999.

(Foto: Dan Levine/DPA)

Vor 20 Jahren hielten Massenproteste gegen die WTO in Seattle die Welt in Atem. Warum wir uns heute dringend an die Details der Auseinandersetzung erinnern sollten.

Von Quinn Slobodian

Es ist genau zwei Jahrzehnte her, dass in Seattle Protestierende die Konferenz der Wirtschaftsminister der Welthandelsorganisation (WTO) verhinderten. Und wenn keine große Überraschung geschieht, wird die WTO in diesem Monat zugrunde gehen, weil die amerikanische Blockade gegen die Ernennung der nötigen Richter sie endgültig lahmlegt.

Nach kaum einem Vierteljahrhundert liegt die WTO also auf dem Sterbebett. Bedeutet das aber auch, wie ein Bloomberg-Reporter kürzlich schrieb, dass die Protestierenden von Seattle nun doch "gewonnen haben, dank Trump"?

Nein, das bedeutet es nicht.

Die Unterstellung zeigt allerdings, wie sehr wir gerade nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit missverstehen. Immer wieder ist zu hören, dass derzeit ein Kampf stattfinde zwischen der offenen und der geschlossenen Gesellschaft, zwischen Kosmopolitismus und Isolation. Dass Feinde von Feinden Freunde sein müssten. Dass sich zum Gegner der WTO zu erklären, heiße, mit Trump übereinzustimmen. Und dass man sich entscheiden müsse: die Welt oder die Nation.

Aber dieses Gerede ist lächerlicher Unsinn. Keine ernsthafte politische Gruppierung fordert noch Autarkie oder den Rückzug aus der globalen Wirtschaft. Fast alle fordern allerdings eine Revision des Status Quo der sogenannten langen Neunziger, die von WTO, NAFTA und Maastricht bis zu den jüngsten Erschütterungen durch Trump, Brexit und Eurokrise dauerten.

Linke Alter-Globalisierer wollen der Globalisierung mehr Legitimität verschaffen

Wir erleben also gerade keinen Kampf zwischen Globalisten und Nationalisten, sondern, genau wie 1999, den Zusammenprall verschiedener Globalisierungskonzepte. Zurück ist, was in den Neunzigern "Alter-Globalisierung", genannt wurde. Nur kommt sie diesmal nicht nur von links, sondern auch von rechts.

Aber eins nach dem anderen: Wenn man sich die Dokumente, die es von den WTO-Protesten von 1999 gibt, ansieht, wird man keine Forderungen nach Mauern oder Verunglimpfungen ausländischer Wettbewerber in Trump-Manier finden, sondern eine Feier der Vielfalt und der internationalen Natur des politischen Kampfes. Eine der bekanntesten Dokumentationen zum Thema, "This Is What Democracy Looks Like", beginnt mit einer Stellungnahme von Vandana Shiva vom International Forum on Globalization, einer sari- und binditragenden Südasiatin. Sie sagt: "Die Weigerung, unsere Wirtschaft mitzugestalten, ist das Ende der Demokratie." Ein paar Minuten später ruft der afrikanischstämmige Leroy Trotman von der Barbados Workers' Union einer Menschenmenge zu, man müsse "sicherstellen, dass die Regierungschefs der ganzen Welt diesen Tag, den 30. November 1999, nie vergessen. (. . .) Diese Demonstration ist nicht nur eine Demonstration der Vereinigten Staaten. Sie ist eine Demonstration der internationalen Arbeiterklasse - reiche Länder, arme Länder, weiße Länder, schwarze Länder, alle Länder."

Danach erklärt ein lateinamerikanischer Aktivist, viele Mitglieder der amerikanischen Arbeiterklasse würden nicht verstehen, "dass zwischen ihnen und den Menschen in Mexiko-Stadt eine direkte Verbindung besteht, dass das, was jenen Leuten passiert, irgendwann auch ihnen passieren wird, vielleicht nicht gleich, aber verdammt, es wird passieren." Und eine Aktivistin, die unter dem Pseudonym "Warcry" bekannt ist, sagt: "Unsere Unterschiede sind unsere Stärken. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in einer homogenen Kultur leben will."

Interdependenz, Globalität, Diversität. Hier sind sie, all die Schlagworte der Neunziger - dieselben, mit denen inzwischen alles zwischen schicken Socken und Sozialhilfereformen verkauft wird. Es wird "progressiver Neoliberalismus" genannt und für den Niedergang der Politik der Arbeiterklasse verantwortlich gemacht. Auf gewisse Art ist es dieselbe Lingua franca wie die von Benetton oder Coca-Cola. Die Inhalte jedoch, mit denen die Modewörter gefüllt wurden, unterschieden sich grundlegend. Die Protestierenden akzeptierten die Globalisierung als Tatsache. Aber sie wollten Institutionen, die den Menschen über den Profit stellen.

Eine "Rückkehr" zum Nationalen ist die falsche Option

Im Zusammenhang mit den Seattle-Protesten wird gerne von der Allianz zwischen "Teamsters and Turtles" gesprochen, eine Umschreibung von Gewerkschaftlern und grünen Gruppierungen. Zwei ihrer zentralen Ziele waren die Einführung von Arbeits- und Umweltrichtlinien in Handelsabkommen. Beide Forderungen wurden und werden routinemäßig von der WTO abgelehnt, da sie unfaire Handelsbarrieren darstellten. Aber bedeutet das, dass eine globale wirtschaftspolitische Steuerung unmöglich ist? Wie soll man einem solchen Ziel nachgehen, wenn nicht durch alternative Formen der internationalen Organisation? Die Protestierenden von Seattle waren sich dieser Tatsache bewusst, weshalb sie sich um Bündnisse mit Diplomaten und indigenen Aktivisten des Globalen Südens bemühten, um neue Institutionen zu schaffen. Sie wollten der Globalisierung nicht abschwören, sie wollten sie umformen.

Wie groß ist der Unterschied zwischen den neunziger Jahren und heute? Die anhaltende Relevanz von Arbeitnehmerrechten und ökologischen Fragen liegt auf der Hand. Genauso wie Fragen der Besteuerung. Die in Folge der Streiks von 1995 in Frankreich gegründete NGO Attac stand ursprünglich für "Action for a Tobin Tax to Assist the Citizen", enthielt also einen direkter Verweis auf Nobelpreisträger James Tobin und seinen Vorschlag einer Finanztransaktionssteuer. All diese Forderungen finden heute Resonanz bei progressiven Ökonomen wie Thomas Piketty, Emmanuel Saez oder Gabriel Zucman, in den Manifesten von Jeremy Corbyns Labour-Partei, den Wahlkampfreden der Demokraten Elizabeth Warren und Bernie Sanders, und sogar der Politik des deutschen Finanzministers Olaf Scholz. Linke Alter-Globalisierer wollten - und wollen - einen Wandel der weltweiten wirtschaftspolitischen Steuerung, der eine größere Legitimität gegenüber Bevölkerungsschichten herstellt, die sich vom Boom internationaler Finanz- und Handelsaktivitäten seit den späten neunziger Jahren ausgeschlossen fühlen.

Die Absurdität der Behauptung, Trump setze nun die Forderungen der Protestierenden um, sollte offensichtlich sein.

Die Essenz der Alter-Globalisierung von rechts ist das skrupellose Vorgehen gegen alle, die den Profit gefährden könnten. Wie die Alter-Globalisierer auf Seiten der Linken, empfinden die auf der politischen Rechten - Trump, Johnson und mitteleuropäische Parteien wie die AfD, die SVP und die FPÖ - das aktuelle System als ungerecht. Doch ihre Forderungen, festgehalten in Parteiprogrammen und Entwürfen für Post-Brexit-Handelsabkommen, beinhalten nicht die Umstrukturierung der multilateralen wirtschaftspolitischer Stuerung zugunsten einer Umverteilung durch Besteuerung, die Verbesserung von Arbeitsbedingungen oder das Ziel einer kohlefreien Ökonomie. Ihr Ziel ist nicht die Umkehrung der neunziger Jahre, sondern die dramatische Beschleunigung ihrer Folgen. Mehr Wettbewerb, weniger Nationen- und Umweltschutz, ein noch schnelleres Wettrennen nach ganz unten.

Trump schläfert die WTO nicht ein, um die Vorstellungen der Protestierenden von Seattle umzusetzen. Er will an ihrer Stelle eine noch restriktiver und asymmetrischer aufgebaute Steuerung des Handels installieren zu können - eine, die Chinas Einfluss einschränkt und den USA ihre globale Kontrollmacht zurückgibt, deren sie sich ungerechtfertigter Weise beraubt fühlt.

Aber zurück zu den aktuellen geopolitischen und geoökonomischen Konflikten: Eine "Rückkehr" zum Nationalen ist nicht nur die falsche Option - sie wird nicht einmal ernsthaft gefordert. Wie 1999 lautet die Frage, die wir uns stellen müssen, nicht, ob wir zur Welt ja oder nein sagen. Die Frage lautet, was für eine Welt wir haben wollen.

Der Autor lehrt Geschichte am Wellesley College. Gerade erschien im Suhrkamp Verlag sein Buch "Globalisten - Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus. Aus dem Englischen von Cornelius Dieckmann.

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