Süddeutsche Zeitung

Ungarn und die EU:Schluss mit der Appeasement-Politik!

Viktor Orbán demontiert die liberale Demokratie in Ungarn. Europas Konservative müssen aufhören, ihn nur zu ermahnen - und seine Fidesz-Partei aus der EVP-Fraktion werfen.

Gastbeitrag von Timothy Garton Ash

Es reicht. Das Appeasement muss aufhören. Sollte Ungarns antiliberaler Ministerpräsident Viktor Orbán weiterhin versuchen, die beste und unabhängigste Universität seines Landes, die Central European University (CEU), zu schließen und die liberale Demokratie auch noch auf andere Weise demontieren, dann muss die Europäische Volkspartei (EVP), die mächtige Gruppe der Mitte-rechts-Parteien in der EU, Orbáns Partei Fidesz aus ihren Reihen ausschließen. Anderenfalls ist das Bekenntnis der EVP zu universellen Werten das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben wurde. Und die politische Familie von Angela Merkel und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, um zwei Namen zu nennen, wird wie ein Haufen prinzipienloser Appeaser aussehen.

Ungarn ist berühmt für seine Salami, und Orbán ist ein Meister der Salamitaktik. Der Begriff geht auf Mátyás Rákosi zurück, den stalinistischen Führer Ungarns, der in den Vierzigerjahren sagte, er werde die nicht-kommunistischen Parteien zurückschneiden "wie Scheiben einer Salami".

1989 kämpfte Orbán für den Abzug der Russen. Heute ist er einer der besten Freunde Putins

Heute beschneidet der antikommunistische Orbán scheibchenweise die liberale Demokratie in einem EU-Mitgliedsstaat. Jede Scheibe schneidet er dabei so kunstvoll dünn, dass die Europäer jedes Mal denken, dass diese eine Maßnahme für sich genommen nicht mehr Reaktionen verdient als ein lautes Murren. Ungarn hat heute nicht mehr die pluralistischen Medien, die für eine liberale Demokratie nötig sind, auch die Unabhängigkeit der Justiz erodiert. Während Orbán versucht, die CEU zu schließen, bereitet er auch einen Schlag gegen alle NGOs vor und will alle Flüchtlinge mit ihren Familien in Container pferchen - gegen internationales humanitäres Recht.

Im Juni 1989 stand ich auf dem Heldenplatz in Budapest und hörte voller Bewunderung, wie der damals 26 Jahre alte, kaum bekannte Orbán die Menge mit seiner Forderung elektrisierte, die russischen Truppen sollten ungarischen Boden verlassen. (Heute ist er einer der besten Freunde Wladimir Putins innerhalb der EU.) Ich erinnere mich auch noch, wie mich der scheinbar idealistische Oxford-Soros-Stipendiat mit seinen leuchtenden Augen in meinem Büro im St. Antony's College besuchte, um über den Übergang zur liberalen Demokratie zu diskutieren.

Heute möchte der ehemalige Soros-Stipendiat Orbán die von George Soros gegründete CEU schließen. Damals führte Ungarn, zusammen mit Polen, halb Europa in die Freiheit, heute führt Ungarn zusammen mit Polen den nationalistischen, populistischen Marsch weg von der Freiheit.

Und dann diese giftige Sprache. In seiner Rede zur Lage der Nation beschimpfte er "die Globalisten und Liberalen, die Machthaber in ihren Palästen ... den Schwarm der Heuschrecken aus den Medien und deren Eigentümer". Und er sprach düster von "großen Raubtieren, die im Wasser schwimmen ... dem transnationalen Imperium des George Soros". Er verhöhnte Angela Merkel von Angesicht zu Angesicht, als er auf dem jüngsten EVP-Kongress auf Malta sage, Migration habe sich "als das Trojanische Pferd des Terrorismus erwiesen".

Über westliche Interventionen im Nahen Osten meinte er: "Wenn wir in einen Ameisenhaufen treten, dürfen wir uns nicht wundern, wenn uns die Ameisen überrennen." Das System, das Orbán in Ungarn errichtet, ist noch kein Faschismus - anders als er sollten wir genau auf unsere Worte achten -, aber die Sprache, die einen jüdischen Milliardär als "Raubtier" bezeichnet und menschliche Wesen zu "Ameisen" reduziert, ist faschistisch.

Und wie reagieren Europas Mitte-rechts-Parteien, die sich zu Recht als Erben der christdemokratischen Gründerväter der Europäischen Union sehen? Sie ringen die Hände. Sie verziehen das Gesicht. Sie führen ernste Telefonate mit ihrem Freund Viktor. Sie sind aufgeregt und sie twittern. "Freiheit des Gedanken, der Forschung und der Rede sind wesentlich für die Europäische Identität", schrieb Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion im EU-Parlament. Die EVP werde diese Werte um jeden Preis verteidigen. Außer um den Preis, möchte man hinzufügen, zwölf loyale Fidesz-Abgeordnete zu verlieren, die der EVP eine klare Mehrheit gegenüber den Mitte-links-Parteien sichern.

Stattdessen reicht die EVP den Schwarzen Peter an die EU-Kommission weiter. Die erklärte vorige Woche, sie werde bis Ende April entscheiden, ob Ungarns Hochschulgesetz und das geplante NGO-Gesetz mit EU-Recht übereinstimmen. Aber das ist nicht nur eine Frage des EU-Rechts, es geht um grundlegende Werte, Werte, die wir mit vielen Menschen auf der Welt teilen, die wir aber in diesem Kontext "europäische Werte" nennen. Die Frage kann also nicht die EU-Kommission beantworten, sie richtet sich an jeden europäischen Politiker, der sich auf diese Werte beruft.

Wollen Sie, Horst Seehofer, wirklich als der nützliche Idiot von Orbán gelten?

Auf einem Video im Internet kann man Jean-Claude Juncker sehen, wie er die Regierungschefs beim EU-Gipfel in Lettland 2015 empfängt. "Der Diktator kommt", witzelt er, um gleich darauf Orbán jovial als "Diktator" zu begrüßen, ihm herzlich die Hand zu schütteln und ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Wange zu geben.

Im Europa von heute ist so eine "Hallo, Diktator"-Situation kein Spaß mehr. Sie ist vielmehr das Gesicht des schnellen Appeasements. So hört es sich an, wenn parteipolitische Interessen und Freundschaften - Orbán ist ein loyales EVP-Mitglied und ein begabter Schmeichler - über Werte gestellt werden. Sollten allerdings Berichte zutreffen, wonach Juncker mittlerweile verlangt, dass die EVP ernsthaft über die Mitgliedschaft von Fidesz diskutiert, dann könnte dies das positive Beispiel eines Politikers sein, der auf Kritik hört und aus früheren Fehlern lernt.

Die CEU ist eine ungarisch-amerikanische Institution, also sind die Vereinigten Staaten direkt betroffen. Es scheint, als habe Orbán damit gerechnet, dass dieser Schritt ihm die Aufmerksamkeit von Präsident Trump bringen würde, dessen Wahl er begrüßt hat, dessen Islamfeindlichkeit er teilt und mit dessen Unterstützung er nächstes Jahr wiedergewählt werden möchte. Tatsächlich jedoch haben die amerikanische Regierung und die Republikaner im Kongress Orbáns Vorgehen heftig kritisiert. Was für eine Ironie es wäre, sollte sich Donald Trump als größerer Verteidiger der europäischen Werte herausstellen als Donald Tusk.

Demnächst wird es eine Plenardiskussion zu Ungarn im Europäischen Parlament geben, Ende des Monats außerdem ein Treffen der nationalen Parteichefs der EVP. Es ist jetzt an der Zeit, einen vernehmlichen Appell an die Politiker der EVP zu richten. Fragen wir den spanischen Premierminister Mariano Rajoy: Haben Sie vergessen, wie faschistische Rhetorik klingt? Fragen wir den irischen Ministerpräsidenten Enda Kenny: Denken Sie wirklich, dass uns das Schicksal "ferner Länder, von denen wir nichts wissen", so egal sein sollte? Fragen wir Grzegorz Schetyna von der polnischen Bürgerplattform: Wie können Sie den Orbánismus in Polen bekämpfen, während Sie ihn in Ihrer eigenen europäischen Parteiengruppe unterstützen? Fragen wir den bayerischen CSU-Chef Horst Seehofer: Wollen Sie wirklich als der nützliche Idiot von Orbán gelten? Und fragen wir die Kanzlerin Angela Merkel: Steht dieser Mann nicht für alles, wogegen Sie stehen?

Timothy Garton Ash, 61, ist Professor für europäische Geschichte an der Universität Oxford und Träger des Aachener Karlspreises 2017. Aus dem Englischen von Lea Hampel und Nikolaus Piper.

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SZ vom 19.04.2017/luch
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