Debatte:Ein Schwein zieht in den Liebeskrieg

"Der Kulturmann": Ein Phantom erobert den intellektuellen Diskurs in Schweden.

Von Thomas Steinfeld

Als der "Kulturmann" das Licht der Welt erblickte, war er ein Herr fortgeschrittenen Alters. Vor zwei Jahren, im April 2014, beschrieb die schwedische Journalistin Åsa Beckman in einem Essay für die Tageszeitung Dagens Nyheter, wie sie ihre Initiation in den Kulturbetrieb erfuhr: durch einen älteren, verheirateten Schriftsteller. Als er sie zum ersten Mal sah, behauptete er, ihr Gesicht schon einmal gesehen zu haben, auf einem Gemälde von Modigliani. Dann schickte er ein Gedicht, in dem von einem Engel die Rede war, der dem Leben eines älteren Mannes eine neue Intensität verleihe. Schließlich war sie verliebt. Er hingegen hatte sich zu nichts verpflichtet. Mit dieser Geschichte begann eine Debatte, die aufwallte und niederging, die aber doch beharrlich fortgesetzt wurde und immer weitere Kreise zieht - seit Beginn der Debatte ist dieses Thema fester Bestandteil der Kulturseiten, vor allem von feministischer Seite. Keine kulturelle Auseinandersetzung wurde seit der Zeit der studentischen Revolte in Schweden so intensiv und ausdauernd geführt.

Feministinnen bekämpfen im "Kulturmann" eine verfehlte Weltanschauung

In diesen Tagen gelangt die Debatte um den "Kulturmann" an ihr systematisches und vermutlich auch historisches Ende, im öffentlichen Spektakel einer gescheiterten Ehe. Die beiden miteinander zerfallenen Menschen, in denen sich die Auseinandersetzung nun konzentriert, waren für das große Publikum schon lange zuvor zu "Ebba" und "Horace" geworden - zu einem intellektuellen Paar für die Nation. Ende März nun brachten beide je ein literarisches Werk heraus. Die Literaturwissenschaftlerin Ebba Witt-Brattström, die engagierteste Kämpferin wider den "Kulturmann", publizierte einen aus vielen kleinen, durch Zeilenbrüche poetisierte Wechselreden zwischen einer "Sie" und einem "Er" zusammengestellten "Roman", der den Titel "Der Liebeskrieg des Jahrhunderts" ("Århundradets kärlekskrig") trägt. Eine der Reden darin lautet: "Herumzuklettern in den Ruinen / einer lebenslangen Beziehung / und den Verdacht zu hegen / dass da niemals stand / ein gemeinsamer Bau." Wer wollte in diesen Versen nicht den Finger erkennen, der aus der Literatur hinaus auf einen Menschen weist?

Eine Woche nach der Veröffentlichung des "Liebeskriegs" publizierte ihr früherer Mann, der Literaturwissenschaftler Horace Engdahl, Mitglied der schwedischen Akademie und viele Jahre lang deren ständiger Sekretär, einen Band mit Prosaskizzen und Aphorismen. "Das letzte Schwein" ("Den sista grisen") lautet der Titel dieses Buches, in dem sich Einträge wie dieser Satz finden: "Das Gefühl, das eigene Leben sei auf die feindliche Seite übergegangen." Beide Bücher treten mit dem Anspruch des Literarischen auf. Sie wären also an ästhetischen Kriterien zu messen. Vor allem die Autorin reklamiert jedoch zugleich eine lebenspraktische Notwendigkeit. Ihren "Roman" kündigte sie mit den Worten an: "Wenn ich meine Version nicht vortragen kann, sterbe ich." Er wiederum sagt, es gebe kein Leben ohne Niederlagen, und jeder meint zu verstehen, dass er in Anspielungen spricht.

Um Literatur handelt es sich also bei diesen Büchern allenfalls bedingt. Künstlerische Freiheit und moralische Belangbarkeit werden in ihnen vermischt, zu erkennbaren Zwecken: Immer, wenn das eine Argument praktische Folgen zeitigen müsste, soll das andere gelten. Was bleibt, ist Repräsentation, und das Bedürfnis danach ist offenbar ebenso selbständig wie unstillbar. So ist es allerdings auch in der Debatte um den "Kulturmann": Selten interessiert dabei, welche Kultur er hervorbringt, und schon gar nicht, ob diese richtig oder falsch, gut oder schlecht, interessant oder langweilig sei. Stets ist er, mit oder ohne Werk, ein Vertreter seines Geschlechts und einer verfehlten Weltanschauung.

Auch Starautor Karl Ove Knausgård wurde bereits als "Kulturmann" identifiziert

Åsa Beckman hatte dem "Kulturmann" noch einige welke Reize abgewonnen: Er habe über einen Zugang zu "interessanten, lustigen, herrlichen, lebensverändernden" Dingen verfügt. Aber schließlich hatte sie ihn begraben: "Der Kulturmann ist tot." Andere Frauen aber, darunter Ebba Witt-Brattström, hielten den eitlen, sich selbst vergötternden Schmarotzer für quicklebendig und wollten vom Feind nicht lassen: So wurde die Rede vom "Kulturmann" zur Kampagne. Es gab Recherchen ("Wer ist der Kulturmann?"), Selbstbezichtigungen ("Ich bin der Kulturmann"), Denunziationen ("Das muss der Kulturmann sein"), in denen das gesamte Arsenal bekannter und unbekannter schwedischer Intellektueller und Künstler durchforstet wurde. Schließlich wurden sogar ein paar "Kulturmänner" identifiziert, diesseits so selbstbezogener, aber toter Ungeheuer wie August Strindberg oder Ingmar Bergman. Der international bekannteste von ihnen ist der norwegische, aber in Schweden lebende Schriftsteller Karl Ove Knausgård.

Im Januar dieses Jahres veröffentlichte Ebba Witt-Brattström, die zwischen den Jahren 2008 und 2011 Gastprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin war, eine Sammlung von Essays unter dem Titel "Der Kulturmann". Darin warf Ebba Witt-Brattström Karl Ove Knausgård vor, in einem frühen Roman in unzulässiger Weise dem Bild heranwachsender Mädchen anzuhängen. Die so ausgestellte pädophile Neigung, behauptete sie, entspreche einer homoerotischen Grundhaltung, die ihre eigentliche Erfüllung im Freund des Mannes finde. Im selben Buch unterzieht sie das publizistische Werk ihres ehemaligen Lebensgefährten einer ähnlichen Kritik: Er habe vor allem Aphorismen hervorgebracht.

Diese aber seien die "Kunst des Feigen". Solche Behauptungen schöpfen ihre Kraft aus der Willkür der psychologischen Diagnose und ziehen ein literarisches Werk nicht nur als Argument gegen den Charakter des Autor heran, sondern auch für eine Zweiteilung der Welt: auf der einen Seite der "Kulturmann", der in seiner Fixierung auf sich selbst nur eine halbe Bildung hervorbringen könne, und auf der anderen Seite die "Kulturfrau", die für Demokratie stehe, ein "genuines Interesse am Menschen" verfolge und zumindest potenziell für das Ganze zuständig sei. Während der "Kulturmann" nie ein angenehmer Zeitgenosse sein kann, gilt für die "Kulturfrau" das Entgegengesetzte.

Die Debatte ist nicht literarisch - sie benutzt Literatur nur, um moralische Urteile zu fällen

Es ist schwierig, sich gegen solche Befunde zu wehren, weil Psychologie hier auch bedeutet, dass jeder Widerspruch als Bestätigung des pathologischen Befundes behandelt wird - zumal in einem Land, in dem Stefan Löfven, der Ministerpräsident, sein Amt im Oktober 2014 mit einer Regierungserklärung antrat, in dem er sich und seine Minister zur "ersten feministischen Regierung der Welt" erklärte - was zumindest eine einigermaßen befremdliche Vermischung staatlicher Macht und gesellschaftlicher Entwicklungen darstellt. Karl Ove Knausgård versuchte es trotzdem: Er lebe im "Land der Zyklopen", schrieb er in einem Essay für Dagens Nyheter: "Die Zyklopen können nicht mit dem Zweideutigen umgehen. Das, was weder gut noch böse ist, verstehen sie nicht, und das macht sie wütend . . . Sie sagen, dass sie Literatur mögen, doch sie mögen nur Literatur, die mit ihren Vorstellungen von Gut und Böse übereinstimmt, und das ist keine Literatur, sondern nur etwas, das so aussieht. Die Literatur ist ihrem Wesen nach zweideutig, aber das wissen die Zyklopen nicht." Karl Ove Knausgård hat zumindest darin recht, dass die Debatte nie literarisch wurde, aber stets die Literatur benutzte, um moralische Urteile zu fällen, nicht zuletzt über die Verfasser.

Den "Kulturmann" gab es, ohne Zweifel. Es gab ihn nicht nur in Schweden, und es gibt ihn womöglich immer noch. Zugleich aber ist das Wort vom "Kulturmann" eine ebenso fragwürdige wie polemische Vereinfachung, in der zum Beispiel die Frage verschwindet, in welchem Maße ein älterer Herr mit zweifelhaften Absichten selbst Gegenstand einer Berechnung zu werden vermag. Generell sei der "Kulturmann" eine "aussterbende Art", hatte Åsa Beckman geschrieben, "man kann sogar sagen, dass es heute oft ein Vorteil ist, eine Frau zu sein". Wenn es um Gut und Böse gehen soll, erscheinen solche Differenzierungen jedoch als unangebracht.

"Er sagt", heißt es in einer der Wechselreden im "Liebeskrieg": "Der Mann ist der Frau überlegen. / So ist es immer gewesen / und so wird es immer bleiben." Worauf "sie" antwortet: "Der Apparat ist in Betrieb / Das halbe Hirn abgestellt." Ebba Witt-Brattström entwirft ein aggressiv sentimentales Bild des weiblichen Opfers. Seine Schwäche aber ist von der Art, die Michelangelo in Gestalt des "David" in Florenz aufstellte: ein Koloss, fünf Meter hoch und sechs Tonnen schwer, neben dem sich jeder Goliath wie ein Zwerg ausnehmen dürfte. Wenn der Feminismus zur Staatsdoktrin wird, heißt das in diesem Fall offenbar nicht, dass er seine Ziele erreicht hat und sich darüber beruhigen kann. Im Gegenteil, nun beginnt der eigentliche Furor, mit der Exekutive im Rücken.

Im vergangenen Sommer griff Ebba Witt-Brattström einen Kulturjournalisten an, der ihr vorgeworfen hatte, sie vereinfache eigentlich kompliziertere Dinge: "Wenn du in einem meiner Grundkurse gesessen hättest, wärst du durchgefallen", teilte sie ihm öffentlich mit. "Du glaubst, du könntest dir deine ersten goldenen Sporen im Literaturbetrieb verdienen, indem du über eine alte feministische Schreckschraube wie Ebba Witt-Brattström herfällst. Doch das geht so nicht . . . Generationen von verzweifelten ,Wannabees' sind in meine Kreise vorgedrungen und wieder gegangen, haben kurz geleuchtet und sind dann erloschen." Sie drohte dem Kritiker mit dem Ende seines beruflichen Daseins, und keiner ihrer (und seiner) Kollegen widersprach. Hier waltet ein Anspruch auf Macht und Autorität, der es nicht nur mit dem Selbstbewusstsein früherer "Kulturmänner" aufnehmen kann, sondern diese an Rücksichtslosigkeit und Aggressivität übertrifft.

Das Buch "Das letzte Schwein" und sein Gegenüber, der Roman "Der Liebeskrieg des Jahrhunderts", liegen in dieser Woche (hinter der Übersetzung von Elena Ferrantes "L'amica geniale") auf Platz zwei und drei der inoffiziellen schwedischen Bestsellerliste.

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