Debatte:Die Regeln des Spiels

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Performance, Bürger-Ensembles und Flüchtlinge haben das Theater verändert. Neue Darstellungsweisen waren auch höchste Zeit.

Von Christian Holtzhauer

Die Debatte um die Münchner Kammerspiele zieht weite Kreise. Längst diskutieren Zuschauer und Beobachter nicht nur über den Kurs eines einzelnen Hauses, sondern über die Zukunft des Schauspiels überhaupt. Anfang Januar hat der Theaterwissenschaftler Bernd Stegemann im Feuilleton vor der Verdrängung des Mimetischen, des Schauspiels, durch die Performance gewarnt. Nun antwortet ihm der Weimarer Dramaturg Christian Holtzhauer. Sein Argument: Das Theater verdankt der Performance inhaltlich und ästhetisch einen dringend notwendigen Entwicklungsschub.

Der Dramaturg Bernd Stegemann befürchtet, dass der Performer, also jener Darstellertypus, der auf der Bühne "seine eigene Existenz zum Thema macht", die mimetische Kunst des Schauspielens - das Vermögen, unterschiedliche Figuren auf der Bühne lebendig werden zu lassen - verdrängen würde, ja bereits verdrängt hat. Statt gesellschaftliche Zusammenhänge zu analysieren und zu kritisieren, stelle das performative Theater Realität aus. Und da es glaube, auf die vermittelnde Instanz von Repräsentanten - also Rollen spielende Schauspieler - verzichten zu können, sei das performative Theater "populistisch". Angesichts der politischen Aufladung dieses Begriffs ist das ein ziemlich schweres Geschütz.

Ein kurzer Blick auf die deutschsprachige Theaterlandschaft zeigt, dass diese Thesen so nicht stimmen können: Das mimetische Spiel ist nach wie vor die dominierende Theaterpraxis, und das Interesse an oder die Liebe zu den Schauspielern für viele Zuschauer eines der wichtigsten Motive für den Theaterbesuch. Zumindest dort, wo die Notwendigkeit von Theater nicht grundsätzlich angezweifelt wird, ist auch nicht zu erkennen, dass die Bedeutung des Schauspielers infrage gestellt würde, selbst wenn einzelne Theater den legitimen Versuch unternehmen, neue Darstellungsweisen und Theaterformen zwischen Rollenspiel und Performance, zwischen Sprechtheater und anderen Künsten zu erproben.

Das Interesse an der Welt da draußen ist die Triebfeder für alles, was auf der Bühne geschieht

Um den Konflikt noch zuzuspitzen, verkürzt Stegemann unterschiedliche Ausprägungen von Theater auf einen Begriff: performatives Theater. Die Formen, die er im Sinn haben dürfte, ähneln sich zwar darin, dass die auf der Bühne agierenden Personen keine Rollen im traditionellen Sinne spielen, haben aber ansonsten wenig miteinander zu tun. Dies gilt für das dokumentarische Theater von Hans-Werner Kroesinger oder Milo Rau, das autobiografische Theater des Performancekollektivs She She Pop oder die Arbeiten mit den "Experten des Alltags" genannten Laiendarstellern des Künstlerteams Rimini Protokoll. Nicht zuletzt fallen wohl auch die gemeinsam mit den Darstellern entwickelten Rechercheprojekte von Regisseuren wie Yael Ronen oder Jan Neumann darunter.

Egal, ob in diesen Theaterformen ausgebildete Schauspieler, erfahrene Performer oder Laien auf der Bühne stehen, fast nie behaupten sie, wie Stegemann es ihnen vorhält, "identisch mit sich selbst" zu sein. Denn auch diese Darsteller werden auf der Bühne zwangsläufig zu Stellvertretern und sind sich dessen bewusst. Zwar sind die Zuschauer geneigt und zuweilen auch dazu angehalten, den Darstellern zu glauben, dass es sich bei ihren Berichten um persönliche Erfahrungen handelt. Wirklich sicher sein können sie sich jedoch nicht. In einer Zeit, in der zwischen Fakt und Fiktion kaum noch zu unterscheiden ist, kommt es den Künstlern oftmals auf das Spiel mit genau dieser Ambivalenz an.

Viele der dem Feld des performativen Theaters zuzurechnende Theaterformen wären übrigens gar nicht vorstellbar ohne zum mimetischen Spiel befähigte Schauspieler. So benötigt etwa Hans-Werner Kroesinger Experten des Sprechens, um Verschleierungsstrategien von Sprache zu entlarven, während bei Yael Ronen Experten des Konflikts ihre politischen Standpunkte aufeinanderprallen lassen. Und im Theater des längst zu den einflussreichsten Theatermachern dieses Landes zählenden René Pollesch verzweifeln Experten der Selbstdarstellung und der Selbstverausgabung am Imperativ zur Hingabe des eigenen Selbst an den Markt.

Die Entwicklung des europäischen Theaters ist von zahlreichen Versuchen geprägt, gesellschaftliche Wirklichkeit einzufangen und ihre Gesetzmäßigkeiten auf der Bühne kenntlich zu machen. Dafür hat sich der Begriff Realismus eingebürgert. In den beiden vergangenen Jahrzehnten entstanden die interessantesten Versuche, der Wirklichkeit beizukommen, außerhalb der großen öffentlich geförderten Theaterbetriebe, nämlich im freien Theater. Es handelt sich um eben jene Theaterformen, die Stegemann als performatives Theater bezeichnet.

Indem die Vertreter jener Theaterformen Fund- und Bruchstücke der Wirklichkeit scheinbar unvermittelt auf die Bühne stellten oder das Theatergebäude gleich ganz verließen, um das Theater des Alltags vor Ort aufzuspüren, zeichneten sie oftmals ein treffenderes Bild ihrer Zeit als manche Klassikerinszenierung, die Gegenwärtigkeit nur behauptete.

Gewiss, das Interesse am Detail und die Nähe zum beobachteten Gegenstand ließen und lassen mitunter die Reflexion der größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge in den Hintergrund treten. Dennoch war und ist das Interesse an der Welt außerhalb des Theaters die Antriebsfeder für dieses Theater.

Jeder kann zu jeder Figur werden. Ein Problem ist es nur, wenn die einen immer die anderen spielen

Die Theaterkritikerin Eva Behrendt machte jüngst in einem Beitrag für die Zeitschrift Merkur deutlich, wie das performative Theater mit seinen künstlerischen Experimenten, aber auch seinen kollektiven Arbeitsweisen, den Theaterbetrieb seit der Jahrtausendwende inhaltlich, ästhetisch und strukturell verändert und mit neuen Impulsen versorgt hat. Hierarchisch und äußerst selbstzufrieden sei der Theaterbetrieb damals gewesen, ja, er drohte in "Darstellungsroutinen zu ersticken". Ihr Text liest sich wie eine Antwort auf Stegemanns Thesen - obwohl er einen Tag früher erschienen ist.

Seien es die Internationalisierung des Theaterbetriebs, die ästhetischen Experimente über künstlerische Genregrenzen hinweg, die zunehmende Zahl von Allianzen zwischen Theatern und anderen Institutionen oder die Entwicklung der "Bürgerbühnen", jener mittlerweile in vielen Städten fest etablierten Orte, an denen Zuschauer unter Anleitung professioneller Theatermacher selbst künstlerisch aktiv werden können - all diese Entwicklungen und Theaterformate sind ohne den Einfluss und die Expertise des freien performativen Theaters kaum vorstellbar. Ebenso wenig jene Projekte, mit denen die Theater ihre angestammten Häuser verlassen und den Stadtraum erkundet haben. Nun mag man darüber streiten, ob solche Projekte zu den Kernaufgaben eines Schauspielhauses gehören. Immerhin haben viele Theater es mithilfe dieser Bespielungen des öffentlichen Raums aber vermocht, Schwellen- und Berührungsängste abzubauen und neue Publikumsschichten zu erschließen.

Theaterprojekte, die ebenfalls vor allem dem performativen Theater zuzuordnen sind, haben in den vergangenen Jahren auch dafür gesorgt, dass andere Darsteller auf den Bühnen dieses Landes auftauchten: Darsteller, die anders aussehen, sich anders bewegen oder sprechen, die andere Erfahrungen und Fähigkeiten und zuweilen auch Einschränkungen mitbringen.

Bis vor wenigen Jahren war es problemlos möglich, dass diese "Anderen" von Schauspielern dargestellt wurden, und es ist immer noch möglich. Theater ist ein freies Spiel mit Zuschreibungen, Rollen und Zeichen. Auf der Bühne kann jeder zu jeder Figur werden. Problematisch wird die Sache nur, wenn es immer die Gleichen sind, die spielen und über die dafür notwendigen Ressourcen verfügen, und die anderen immer nur zuschauen dürfen.

Natürlich kann sich - um ein in Theaterkreisen ausgiebig diskutiertes Beispiel zu nennen - ein weißer Schauspieler das Gesicht schwarz schminken, um eine farbige Figur zu spielen, etwa Othello. Das ist die Freiheit der Theaterkunst. Nur müssen sich sowohl der Schauspieler als auch alle anderen Beteiligten darüber im Klaren sein, dass es sich bei diesem Vorgang um eine rassistische Praxis handelt. Und sie müssen erklären können, warum ein weißer Schauspieler sich schwarz schminken darf, während es für farbige Schauspieler bis vor Kurzem ungemein schwierig war, überhaupt ein Engagement zu bekommen, da sie aufgrund ihrer Hautfarbe ja nur eingeschränkt zu besetzen seien.

Dokumentarisch? Autobiografisch? Oder doch gespielt? Milo Raus "The Dark Ages" im Münchner Marstall-Theater. (Foto: Thomas Dashuber)

Manche Versuche gelingen, andere scheitern. Das muss das Publikum aushalten

Die Frage, wer wen darstellen oder wer für wen sprechen kann und darf, beschäftigt übrigens nicht nur das mimetische Theater, sondern auch das performative und alle anderen Theaterformen auch. Denn im Theater, so schreibt der Soziologe Dirk Baecker sinngemäß, spielt sich eine Gesellschaft in aller Öffentlichkeit die Regeln ihres Funktionierens vor. Das bedeutet, dass diejenigen, die spielen oder auf irgendeine andere Art auf einer Bühne agieren, immer eine Stellvertreterfunktion haben. Sollte in unserer Gesellschaft tatsächlich jeder irgendwann nur noch für sich selbst sprechen dürfen, wäre es um das Theater schlecht bestellt - und um die repräsentative Demokratie sowieso.

Im Ergebnis eines Prozesses, der häufig als "Öffnung" beschrieben wird, ist unsere Theaterlandschaft unter dem Einfluss performativer Theaterformen pluralistischer geworden. Die Theater haben damit auf demografische Entwicklungen reagiert. Eine vielfältige Gesellschaft braucht ein vielfältiges Theater. Dazu gehören das mimetische Theater ebenso wie die verschiedenen Spielarten des performativen Theaters und sicherlich auch Theaterformen, die wir noch gar nicht kennen können. Denn in dem Maß, wie sich die Gesellschaft entwickelt, muss sich auch ein Theater verändern, das ihr auf der Spur bleiben will.

Dass Veränderungen nicht ohne Spannungen ablaufen und neu entstehende Theaterformen bereits etablierte infrage stellen, liegt auf der Hand. So hat das freie performative Theater in seinen Anfangsjahren in seinem Ringen um Anerkennung und öffentliche Förderung mitunter tatsächlich versucht, sich selbst als eine dem Stadttheater ästhetisch und in Bezug auf seine Wirtschaftlichkeit überlegene Alternative darzustellen. Diese Debatte gehört jedoch der Vergangenheit an.

Ein positiver Nebeneffekt der Diskussionen um die Ausrichtung einzelner Theaterhäuser oder um das Verhältnis unterschiedlicher Formen von Theater zueinander ist es, dass alle Beteiligten angehalten sind, sich klar zu positionieren. Die Künstler - Regisseure, Schauspieler, Performer und Autoren - können sich nun entscheiden, welches Theater sie machen wollen, sofern sie um seine Möglichkeiten und Beschränkungen wissen. Die Theaterbetriebe können jene institutionelle Durchlässigkeit entwickeln, die verschiedene Theaterformen und Arbeitsweisen unter einem Dach ermöglicht, und trotzdem klare Profile ausbilden. Die Kulturpolitik wiederum muss die hierfür notwendigen Rahmenbedingungen schaffen und die zur Verfügung stehenden Ressourcen angemessen, aber auch gerecht verteilen. Das Publikum schließlich kommt in den Genuss eines vielfältigen Angebots. Es muss allerdings aushalten, dass die Kunstform Theater sich beständig erneuert und nicht jeder Versuch auf Anhieb gelingen kann.

Und für alle Beteiligten gilt: Die Vielfalt der Themen, Formen und Stile, mit denen das Theater schon heute aufwarten kann, ist eine Chance, keine Bedrohung.

Christian Holtzhauer ist Dramaturg und Künstlerischer Leiter des Kunstfests Weimar und Vorsitzender der Dramaturgischen Gesellschaft .

© SZ vom 20.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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