Debatte um Burka-Verbot:Das Gesicht und die Freiheit

Salafisten-Kundgebung in Offenbach

Vollverschleierte Frauen im Juni 2014 bei einer Salafisten-Kundgebung in Offenbach.

(Foto: dpa)

Die Regeln, die der Staat sich gibt, müssen nicht auch in der Öffentlichkeit gelten. Warum ein Verbot von Burka und Niqab verfassungsrechtlich fragwürdig wäre.

Gastbeitrag von Christoph Möllers

Mein persönliches Unbehagen beim Anblick einer vollverschleierten Frau ist deutlich geringer als mein persönliches Unbehagen beim Anblick einer fremdenfeindlichen Demonstration.

Das mag auf Ignoranz beruhen. Vielleicht verkenne ich nur, welches Maß an Unterdrückung in dieser Kleidungspraxis zum Ausdruck kommt. Sicherlich geht es anderen gerade umgekehrt. Es gibt keinen Konsens, was uns im öffentlichen Raum aus welchen Gründen wie sehr stört.

Unumstritten ist aber, dass wir fremdenfeindliche Demonstrationen nicht verbieten wollen, weil wir das Tragen von Burka und Niqab in der Öffentlichkeit verbieten. Die Abschaffung der Demonstrationsfreiheit für Radikale würde unsere Demokratie in Frage stellen.

Wäre es aber nicht eine seltsame Öffentlichkeit, in der jeder seine Ablehnung gegenüber dem Islam öffentlich zum Ausdruck bringen darf, aber Frauen, die Objekt dieser Ablehnung sind, gezwungen wären, zu Hause zu bleiben? Sollten wir nicht zumindest versuchen, in dem, was wir aus der Öffentlichkeit verbannen, kohärent zu sein?

Überlegungen wie diese, die mit Vergleichen etwas Stimmigkeit in die Debatte zu bringen suchen, scheitern regelmäßig, weil von "Werten" die Rede ist. "Die Burka verstößt gegen unsere Werte."

Nicht alles, was "wertlos" ist, darf, soll oder muss gar verboten werden.

Mal abgesehen vom nicht zufällig schiefen Sprachgebrauch, der Werte mit Pflichten verwechselt (gegen Werte kann man nicht verstoßen), mag man ahnen, was mit diesem Satz gemeint ist.

Aber ist ebenso klar, was aus ihm folgen soll? In einer freiheitlichen Gesellschaft diskutieren wir über staatliche Verbote in Kategorien von Rechten und Pflichten. Nicht alles, was in irgendeinem Sinne "wertlos" ist, darf, soll oder muss gar verboten werden.

In der freiheitlichen Ordnung ist gerade Wertloses geschützt. Die Berufung auf Werte verdeckt den Unterschied zwischen dem, was erlaubt werden muss, und dem, was verboten werden kann. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das französische Burkaverbot erlaubt, aber natürlich keine Pflicht behauptet, es zu erlassen.

Eingriffe in Grundrechte müssen im deutschen Recht verhältnismäßig sein

Wenn nun ein Verfassungsrechtler gebeten wird, zu einer solchen Frage Stellung zu beziehen, sollte er der Versuchung widerstehen, ex cathedra ein Verdikt zu fällen: verfassungskonform oder verfassungswidrig.

Verfassungsrecht sollte in der öffentlichen Debatte nicht dazu genutzt werden, Diskussionen abzuschneiden, sondern dazu, bewährte Argumente bereitzustellen und zu sehen, wie in vergleichbaren Fällen vorgegangen wird. So bewahrt uns eine verfassungsrechtliche Perspektive vorm autoritären Moralisieren des Wertbegriffs.

Eingriffe in Grundrechte müssen im deutschen Recht verhältnismäßig sein. Das bedeutet, sie müssen einem Zweck dienen und diesen erfüllen können, ohne zu weitgehend in die Freiheit der Betroffenen einzugreifen.

Meistens ist das ein Problem der Abwägung: Rechtfertigt der an sich nützliche Zweck das Mittel der Freiheitsverkürzung? In unserem Fall stellt sich schon die Frage, welchem Zweck das Verbot dient. Der Hinweis auf Werte ersetzt nicht die Beantwortung dieser Frage, sonst wäre alles "Wertlose" verboten - und damit etwa die Meinungsfreiheit schnell abgeschafft. Wenn wir etwas verbieten wollen, müssen wir wissen, wozu.

Welches Rollenmodell kommt durch die Gesichtsverschleierung genau zum Ausdruck?

Dass mit dem Verbot von Burka und Niqab die innere Sicherheit geschützt werden soll, ist auszuschließen. Es ist nicht im Ansatz zu erkennen, wie das gelingen könnte.

Weniger eindeutig erscheint, ob ein Verbot nicht die Gleichberechtigung oder die Würde von Frauen schützen könnte. Würden wir in der Gesichtsverschleierung eine ihre Würde verletzende Darstellung von Frauen erkennen, so läge es allerdings nahe, sich politisch auch um die Zustände innerhalb der Familie zu kümmern, in denen die betroffenen Frauen leben.

In Deutschland ist Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 strafbar. Wenn man sich hier im Namen der Frauenbefreiung nur über das zu erregen vermag, was öffentlich geschieht, gerät die Debatte schnell in den Bereich der Heuchelei.

Dient das Verbot vielleicht nur dazu, ein falsches Rollenmodell für Frauen aus der Öffentlichkeit zu verbannen? Freilich ist nicht einfach zu sagen, welches Rollenmodell durch die Gesichtsverschleierung genau zum Ausdruck kommt.

Wie die meisten, die sich an der Debatte beteiligen, weiß ich über die Lebenswelt vollverschleierter Muslimas in Deutschland sehr wenig. In diesem Fall sucht man sich zu informieren, und wenn dies, wie hier, zu keinem eindeutigen Ergebnis führt, weil diese Lebenswelten unterschiedlich sind, wird man nach Regeln Ausschau halten, wie mit dem Unwissen umzugehen ist.

Der Zweck eines Verbots bestünde vor allem darin, unser Unbehagen zum Verschwinden zu bringen

In freiheitlichen Gesellschaften lautet eine solche Regel, allen Handlungen Freiwilligkeit zu unterstellen, solange nicht das Gegenteil belegt ist. Daher müssen wir vorsichtig sein, vollverschleierte Frauen ohne Weiteres wie Unmündige zu behandeln.

Wenn aber Zwang im Spiel ist, kann man ein Verbot schlecht gegen das Opfer des Zwangs richten, sondern nur gegen den Erzwinger. Zu den Seltsamkeiten der Verbotsdebatte gehört es, vollverschleierte Frauen einerseits als Unmündige zu behandeln, um sie andererseits wie Mündige sanktionieren zu wollen. Dass niemand auf die Idee gekommen ist, Männern zu verbieten, Frauen zu zwingen, begründet wiederum die Vermutung, dass ein Verbot nicht die Freiheit der Frauen zum Zweck haben kann.

Wozu aber dann ein Verbot? Nach meinem Eindruck besteht sein Zweck subjektiv darin, unser Unwohlsein an der Burka loszuwerden, also einer sehr unangenehm erscheinenden Wirklichkeit ihre Sichtbarkeit zu nehmen.

Das Burka-Verbot ähnelt Maßnahmen, die Obdachlose aus Innenstädten verbannen.

Das erklärt, warum sich das Verbot auf die Öffentlichkeit beschränken soll und sich für die Umstände der adressierten Frauen nicht interessieren muss. So gesehen ähnelt es Maßnahmen, die Obdachlose aus Innenstädten verbannen.

Es folgt einer medialen Logik der Verdrängung des Unerwünschten und des Einschlusses in Gemeinschaften Gleichgesinnter. Man fühlt sich an Kinder erinnert, die glauben, die Welt verschwände, wenn sie die Augen schließen. Eine gute Rechtfertigung lässt sich daraus kaum herleiten.

Aber lässt sich dieser Zweck nicht auch objektivieren? Verzichten nicht viele Regelungen auf eine nachweisbare Wirkung und beschränken sich darauf, eine Missbilligung zum Ausdruck zu bringen? Das Strafrecht funktioniert so.

Was öffentlich geschieht, muss nicht zwangsläufig unserer Ordnung entsprechen

Wir wissen nicht sicher, ob die Strafbarkeit von Mord und Totschlag dafür sorgt, dass weniger getötet wird. Trotzdem ist es notwendig, unseren Respekt vor dem Leben durch eine strenge Sanktion von Tötungen zum Ausdruck zu bringen. Warum gilt das nicht auch für ein Burkaverbot? Erstens, weil wir, wie gesehen, gar nicht genau wissen, was wir da missbilligen. Zweitens, weil die Burkaträgerin niemandem schadet. Sie nimmt niemandem etwas von seinen Rechten weg. Zum Dritten, weil nicht alles, was öffentlich geschieht, unserer Ordnung entsprechen muss.

Liberale Rechtsordnungen unterscheiden zwischen Regeln für den Staat und Regeln für das öffentliche Auftreten der Bürger. Für Richter, Lehrer und Polizisten gelten strengere Regeln.

Darum ist es möglich und richtig, Frauen in Vollverschleierung von der Ausübung öffentlicher Ämter auszuschließen, welche die staatliche Ordnung repräsentieren, aber eben nicht allgemein aus dem öffentlichen Raum.

Wir verbieten den öffentlichen Auftritt von Privatpersonen nicht schon deshalb, weil er der Ordnung widerspricht, sondern nur, wenn etwas Weiteres hinzukommt, was ihn zum Problem werden lässt: Gewalt oder Gefährlichkeit.

Praktisch sollten wir Verbote daher nur für spezifische Gefahren erlassen, etwa im Straßenverkehr. Daher gibt es ein Vermummungsverbot für öffentliche Demonstrationen, das aber ausdrücklich nicht für religiöse Kundgebungen gilt. Will man diese Einschränkung beseitigen, wird man es für alle Arten religiöser Bekleidung tun müssen.

"Der freie Mensch zeigt dem anderen sein Antlitz." Der Satz klingt gut. Aber stimmt er auch?

Müssen sich in der Demokratie nicht dennoch alle in die Augen sehen können? "Der freie Mensch zeigt dem anderen sein Antlitz." Das schreiben die Richter des Bundesverfassungsgerichts Jentsch, Mellinghoff und Di Fabio in der abweichenden Meinung einer Entscheidung von 2003 (in der es bemerkenswerterweise um Kopftücher ging, die das Gesicht nicht verdecken). Der Satz klingt gut, aber stimmt er auch?

In einer Welt, in der ein Großteil der demokratischen Öffentlichkeit im Internet (man darf gerne hinzufügen: leider) anonym stattfindet, scheint für viele Teilnehmer am demokratischen Diskurs gerade ihre Anonymität - und das bedeutet auch Gesichtslosigkeit - Bedingung ihrer Freiheit zu sein.

Wenn wir De-Anonymisierung zur Bedingung der Demokratie machten, müssten wir eine allgemeine Pflicht zur öffentlichen Selbstidentifizierung einführen und dazu nicht nur eine einzelne sozial schwache und unbeliebte Gruppe aussondern. Schließlich: Selbst wenn das freie Gesicht Bedingung der Freiheit wäre, könnte es doch diejenigen nicht befreien, die gezwungen wären, ihr Gesicht zu enthüllen.

Die Regel, welche die Vollverschleierung schützt, schützt auch diejenigen, die ihr Verbot fordern

Ein allgemeines Burka- und Niqab-Verbot würde eine bestimmte Gruppe von Personen anders behandeln als alle anderen, dabei in ihre Freiheit eingreifen, indem sie diese Gruppe vom öffentlichen Raum ausschließt, und dies ohne einen klaren rechtfertigenden Zweck tun. Dass diese Konstellation verfassungsrechtlich prekär ist, dürfte auf der Hand liegen.

In einer Demokratie greift es zudem zu kurz, verfassungsrechtliche Argumente zu behandeln, als kämen sie von außen - nach dem Motto: Eigentlich hätten wir gerne ein Verbot, aber wir dürfen ja nicht.

Besser wäre es, sich zu fragen, welchen Preis die Gesellschaft insgesamt dafür zahlt, ein solches Verbot für ihr unbehagliche Minderheiten zu erlassen - schon weil niemand weiß, ob er nicht auch mal zu einer solchen Minderheit gehören wird. Denn die Regel, welche die Vollverschleierung schützt, schützt auch diejenigen, die ihr Verbot fordern.

Der Autor ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität und Leibniz-Preisträger 2016. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Die Möglichkeit der Normen" (Suhrkamp Verlag, 2015).

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