David Gutersons "Der Andere":Schokokugeln in der Kalkhöhle

"Der Andere" von David Guterson

In David Gutersons neuem Roman "Der Andere" geht es um Freundschaft, Sehnsucht und Vergänglichkeit.

(Foto: dpa)

Während Neil eine Universitätskarriere anstrebt, entflieht John William der Gesellschaft und bricht alle sozialen Kontakte ab. Von ihrer dennoch so außergewöhnlichen Freundschaft erzählt David Guterson in seinem neuen Roman "Der Andere".

Von Ulrich Baron

In der Schule sei er 800-Meter-Läufer gewesen, bekennt Gutersons Ich-Erzähler. Kein einsamer Langstreckenläufer, kein Sprinter und ein Sieger schon gar nicht. Überhaupt sei er am besten mit dem Mittelfeld vertraut, und ohne jenen Schulwettbewerb wäre er seinem Jugendfreund und "Doppelgänger" wohl nie begegnet - John William, dem Reiche-Leute-Sohn, dem Zögling einer Eliteschule, der später "sieben Jahre in den Wäldern lebte und mir vierhundertvierzig Millionen Dollar vermachte".

Man ist zunächst ein wenig verstimmt, wenn einem das Thema Mittelklasse und ein - auch im Original auf Deutsch eingeführtes - "Doppelgänger"-Motiv so unter die Nase gerieben und mit einer Riesensumme garniert werden. Aber Gutersons Ich-Erzähler Neil Countryman ist ein später Debütant aus dem entlegenen Seattle, ein Englischlehrer, der nach jahrzehntelangem Zögern seinen ersten Roman geschrieben hat. Auch Guterson war Englischlehrer und ein Doppelgänger seines Protagonisten, bis sein Debütroman "Schnee, der auf Zedern fällt" (1994) zum Weltbestseller wurde.

"Der Andere", in den USA 2008 als "The Other" erschienen, ist ein Buch über Freundschaft und Verrat, über den amerikanischen Traum und seinen Preis, ein Meisterwerk des literarischen Regionalismus und zugleich eine Reflexion seiner literarischen Quellen.

Seinen Titel hat Guterson bei Arthur Rimbauds "Je est un autre" entlehnt, und manchmal hat man den Eindruck, es ginge hier nicht nur um zwei Freunde, von denen der eine seine kleine, systemkonforme Karriere macht, während der andere als Aussteiger umkommt, sondern um die nie bis ins Letzte hinein erzählte Beichte eines Brudermords.

Was den Erzähler und seinen Doppelgänger verbindet, ist ihre Leidenschaft für die amerikanische Wildnis, in der John William ohne Hilfsmittel auszukommen sucht. Es ist jenes pure Amerika, dessen überreiche Natur den amerikanischen Traum vom Schöpfen aus dem Unerschöpflichen genährt hat. John Williams Vorfahren sind dabei reich und prominent geworden, während die Countrymans Generationen von Schreinern hervorgebracht haben.

Als die Freundschaft der beiden beginnt, ist Nixon Präsident, und im Staate Washington gibt es noch weglose Areale, deren größtes die Fläche Belgiens überbietet. John William bewegt sich darin mit der traumwandlerischen Sicherheit eines jungen Mannes, der nicht um jeden Preis überleben will.

Die "Unglücksmaschine" John Williams

Eigentlich das Urbild des netten Jungen, der selbstverständlich ein vorbildlicher Pfadfinder war, wird John William von depressiven Schüben heimgesucht und sucht nach einem Ausweg aus der "Unglücksmaschine" seines Lebens.

Einmal hat er ein Aufsatzthema verfehlt und statt über "Wie es euch gefällt" über den finsteren Gott der Gnosis geschrieben, "den man nur durch Missachtung seiner Gebote überwinden konnte". Jetzt verkündet er in seiner Klause: "Ich schmuggle mich an Gott vorbei", und fügt hinzu "zu unserer aller Mutter", aber das registriert sein Freund nur am Rande.

Was John Williams leibliche Mutter ihrem Sohn in dessen früher Kindheit angetan hat, erfährt man erst gegen Ende aus der späten Beichte seines greisen Vaters. David Guterson nutzt die Unerfahrenheit, die er seinem Ich-Erzähler zuschreibt, um dessen Geschichte subtil auszubremsen. Auf den Paukenschlag der Millionenerbschaft folgt so ein langer Mittelteil, der die Jugend der beiden Freunde umfasst, doch manches erst spät und am Rande durchblicken lässt.

Schokokugeln in der Kalkhöhle

Neil Countryman finanziert sein Studium durch den Verkauf von Kaminholz, macht eine - ausführlich beschriebene - Europareise und lernt dabei seine spätere Frau kennen. Sein Leben findet in der von John William verspotteten "Hamburger-Welt" statt.

John William wiederum gerät auf der Seite der frühen Öko-Aktivisten mit dem Gesetz in Konflikt, und zieht sich schließlich an einen fast unzugänglichen Ort in der Wildnis zurück, wo er nahe einer heißen Schwefelquelle seine Einsiedlerhöhle aus dem Kalkfelsen schlägt. An jenem Ort, der nur den beiden bekannt ist, wird John Williams Leben zu Ende gehen.

Es gibt unbeschwerte Jugendszenen, wenn der Einsiedler und sein Besucher mit manischem Eifer auf die Wände der nur langsam wachsenden Kalkhöhle einschlagen, um dann zur Entspannung beim Bad in der heißen Quelle die aktuellen Hits der 1970er-Jahre zu hören, über Literatur zu philosophieren, Joints zu rauchen und Schokokugeln zu essen.

John William weiß nicht nur manche Produkte der "Hamburger-Welt" zu schätzen; er hat seinem Freund auch geholfen, sich kommod darin einzurichten. Neil wiederum fühlt sich jenen indischen Dorfbewohnern verwandt, die in Rudyard Kiplings Erzählung "Das Wunder von Purun Bhagat" einen seltsamen Heiligen versorgen.

Einhundert Gedichte aus China

John Williams Einsiedelei bleibt geheim - die beiden Doppelgänger haben das mit Blut besiegelt. Dann kommt ein Winter, in dem ein verletzter Knöchel Neil an einer Versorgungsfahrt hindert. "John William starb", heißt es: "Ich konnte mir vorstellen, wie er lesend am Feuer gesessen hatte und dann aufgestanden und vielleicht ohnmächtig geworden war, weil neben seinen Beinen eine Wasserflasche lag und bei seinen ausgestreckten Händen im Dreck Einhundert Gedichte aus China. Selbst jetzt konnte ich nicht weinen, bei dem Gedanken, dass John William kurz vor seinem Tod Tu Fu oder irgendeinen anderen chinesischen Lyriker gelesen hatte, der schon seit eintausend Jahren tot war."

Rund um diese Sätze entfaltet Guterson eine der eindringlichsten Todes- und Grablegungsszenen der amerikanischen Literatur - so beklemmend in ihrer Sachlichkeit, dass einem jener Satz leicht entgehen kann, der unmittelbar auf die lakonische Todesmeldung folgte: "Ich werde hier niemandes Interesse an forensischen Details befriedigen."

Man kann das als Absage an die populären literarischen Leichenschauen verstehen, aber der Ausdruck "forensisch" bezeichnet kriminalistische Verfahren.

Hat der talentierte und von seinem Gewissen geplagte Mr. Countryman seinen reichen Freund nicht nur im Stich gelassen, sondern dessen Tod mitverursacht? Hat er den psychisch labilen John William mit subtilen Manipulationen an einen Ort gebracht, wo er von ihm abhängig war?

Einsam leben, einsam sterben

Je genauer man die Geschichte unter die Lupe nimmt, desto stärker treten solche Verdachtsmomente zutage - aber auch deren Widerlegung. "Der Andere" ist kein Kriminalroman. Einsam in der Wildnis zu leben, heißt auch, einsam in der Wildnis zu sterben. Und einen Freund einsam in der Wildnis leben zu lassen, heißt auch, einen Freund einsam in der Wildnis sterben zu lassen.

John William ist als Doppelgänger des Erzählers die Verkörperung romantischer Lebensentwürfe. Er ist reich und zugleich Aussteiger, gebildet und zugleich Naturbursche. Dann ist er tot, und sein Erbe gesteht: "Natürlich bin ich ein Heuchler und lebe damit, aber ich lebe." Das ist nicht das hohe Lied des amerikanischen Mittelstandes und des Erwachsenwerdens.

Es ist die Bilanz eines Amerikaners, der sein besseres Ich in der Wildnis zurückgelassen hat, wo es nach einigen wunderbaren Jahren immer dünner und blasser geworden und endlich ganz verblichen ist. Was er nun mit all dem Geld anfangen soll, weiß Neil nicht so recht. Seine Jugend mit ihren raren Momenten der Unbeschwertheit liegt hinter ihm, begraben in einer Kalkhöhle und einem Buch.

David Guterson: Der Andere. Aus dem Englischen von Georg Deggerich. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2013. 352 Seiten, 22,99 Euro.

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