David Chariandys Roman "Francis":And I'm feeling good

David Chariandys Roman "Francis": David Chariandy lebt inzwischen in Vancouver. Hier ist er zu Besuch bei der Bücherei des Viertels Scarbourough von Toronto, in dem er 1969 geboren wurde.

David Chariandy lebt inzwischen in Vancouver. Hier ist er zu Besuch bei der Bücherei des Viertels Scarbourough von Toronto, in dem er 1969 geboren wurde.

(Foto: Steve Russell/imago/Zuma Press)

Ein Buch wie ein Lied von Nina Simone. David Chariandy erzählt vom Katzentisch des Lebens und von denen, die nur dort einen Platz abbekommen haben.

Von Ulrich Rüdenauer

Der DJ war einmal Archäologe und Historiker, Forscher und Goldgräber, Zeremonienmeister und Ekstaseproduzent. In den abgewrackten Stadtteilen der Großstädte, in Detroit oder der Bronx kramten junge Schwarze in den 1970er- und 1980er-Jahren in alten Kisten nach längst vergessenen Platten, kreuzten Beats aus verschiedenen Jahrzehnten, mischten Jazz und Funk und Soul, kratzten sachte an der Gegenwart, indem sie die Vergangenheit immer weiter und weiter sich drehen ließen, bis eine Erzählung entstand ohne Anfang und ohne Ende.

Auch in Scarborough, einem berüchtigten Stadtteil Torontos, treffen sich zu Beginn der 80er die Jungs in einem alten Barbershop, dem Desirea's. Francis und Jelly bringen ihre in Garagen und Secondhand-Läden gefundenen Schätze mit, verblasste Plattencover und verstaubtes Vinyl. Songs, die schon die aus der Karibik oder von anderswo nach Kanada eingewanderten Eltern gehört haben.

Dann legt Jelly los: "Jeden Tag verbrachte er Stunden an seinem Setup mit den zwei Technics 1200, die Plattenspieler waren mit Abstand das Teuerste im ganzen Laden und wahrscheinlich auch in unserem Leben. Auf einem Ohr ein Kopfhörer, während seine Finger vom Mischpult zu dem doppelten Vinyl flogen, spürte er den Breakbeat auf und isolierte ihn, dieses kostbare Bedeutungsteilchen, drei Sekunden, in denen die tiefere Geschichte eines Songs aufscheint, ehe sie sich immer weiter ausdehnt. Jelly war ein Meister darin, und niemand, den wir je gehört hatten, konnte besser scratchen als er. Aber selbst innerhalb der neuen Klasse von DJs war er ein seltener Vogel, denn was sein Genie ausmachte, war der gleichmäßige Flow und wie er unaufhörlich einen Sound, einen Stil, eine Epoche mit anderen mischte. Er zauberte mit dem Crossfader und den verschiedenen Equalizern, und auf diese Weise erkannten wir Verbindungen, die wir nie vermutet hätten. Zwischen Ska und Blues. Zwischen Port of Spain und Philadelphia. Zwischen den 1950ern und den späten 1980ern."

David Chariandys Roman "Francis": Glückspotenziale ausgelöscht in Scarborough, Toronto.

Glückspotenziale ausgelöscht in Scarborough, Toronto.

(Foto: Sid Naidu/imago images/ZUMA Wire)

Jelly träumt von der großen Karriere als DJ, und sein bester Freund Francis träumt ein wenig mit. Francis' jüngerer Bruder Michael bewundert die älteren Jungs. Er fängt gerade an, seine Erfahrungen zu machen mit der Welt und der Liebe. Die Codes der Coolness kennt er nicht, aber er beobachtet genau, und auch wenn er es nicht formulieren könnte, so spürt er zumindest, was dieser Barbershop bedeutet. Es ist ein geschützter Raum, eine Oase inmitten der schmutzigen, gefährlichen Sackgasse von Scarborough, in der die schwarzen Kids und Einwandererkinder auf einen Platz am Katzentisch des Lebens vorbereitet werden. Der DJ spinnt die Fäden zwischen den Generationen. In der Musik entsteht eine Community aus Aretha Franklin, Bob Marley und den desillusionierten Jugendlichen dieses Vororts, der in den Nachrichten nur auftaucht, wenn über Drogen oder Mordfälle berichtet wird. Der DJ ist ein zurückschauender Gegenwartskünstler. Erinnerung jedoch hat nichts zu tun mit "alt und grau und weit entfernt", erklärt Francis dem jüngeren Bruder. Erinnerung sei der "brennende Muskel im Jetzt". "'Und wenn du Erinnerung nicht kannst', sagte er, 'hast du verloren.'"

David Chariandy erzählt in seinem zweiten Roman "Francis" davon, wie die Erinnerung das Jetzt bestimmt, bedrängt und beschwert. Von der gefürchteten Schmuddelecke namens Scarborough, in der der Autor selbst in den 70er Jahren aufgewachsen ist. Von einer Mutter, die aus Trinidad einst voller Hoffnungen nach Kanada gekommen war und den zurückgebliebenen Verwandten vorgaukelt, dass dort Wohlstand und das ersehnte Glück auf sie gewartet haben. Er erzählt davon, wie sich diese Frau abrackert, um alleine mit den beiden Söhnen Francis und Michael über die Runden zu kommen; wie sie abends vor Erschöpfung im Bus fast einschläft und nur manchmal beim Schaufenster-Shopping ihre einstige Unbeschwertheit wiederfindet.

Von einer trostlosen Wohnsiedlung, dem "Park", von den Reihenhäusern und schiefen Wohnsilos aus Beton, die unter den Bewohnern aus den ehemaligen Kolonien ironischerweise Waldorf oder Rosedale heißen, weil sie vom damit aufgerufenen Luxus nicht weiter entfernt sein könnten. Von der Aura der Bedrohung und der Aussichtslosigkeit, die den Kindern früh zu Bewusstsein kommt, sie zu Erwachsenen macht und, in den Augen der Mehrheitsgesellschaft, zu einer Gefahr. Und Chariandy erzählt von den beiden Brüdern Francis und Michael, davon, wie der eine den anderen zu beschützen sucht und mit der Härte der Straße vertraut macht, obwohl er selbst fast noch ein Kind ist. Aus Michaels Perspektive lernen wir diese Welt kennen, in der die Verbindungen zur Herkunft der Eltern gekappt sind und noch keine neuen Wurzeln greifen, wo vielleicht nur in der Musik die unterschiedlichen Identitäten zusammenfinden können, die sich drehenden Plattenteller die Fliehkräfte bändigen. Das Desirea's ist eine Rettungsinsel.

David Chariandys Roman "Francis": David Chariandy: Francis. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Brovot. Claassen, Berlin 2021. 192 Seiten. 20 Euro.

David Chariandy: Francis. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Brovot. Claassen, Berlin 2021. 192 Seiten. 20 Euro.

Wir wissen allerdings, dass solche utopischen Orte störanfällig sind, vor allem wenn von außen etwas auf sie einwirkt, das mit Utopien gar nichts am Hut hat. Francis wird bei einer Razzia von der Polizei erschossen. Es ist das Ereignis, das wie ein Schatten über dem Roman und seinen Figuren liegt, das alles bestimmt und niemals vergeht - der brennende Muskel im Jetzt. Zehn Jahre sind inzwischen vergangen, es ist das Jahr 1991. Michael hat einen dieser Odd-Jobs in einem Lebensmitteldiscounter, die Beziehungen zu den früheren Freunden sind zerrissen. Er kümmert sich um seine Mutter, die seit dem Tod von Francis nicht mehr auf die Beine gekommen ist und zusehends aus der Welt verschwindet, ihre Sinne verliert und auch ihr Gedächtnis. Jelly hat sich in Drogen geflüchtet. Michaels erste Liebe Aisha hat bald nach den Schüssen Scarborough verlassen. Nicht nur Francis wurde ausgelöscht, sondern auch die Glückspotenziale seiner Familie und Freunde.

Diese Versehrten, denen der Schock von Francis' Tod auch viele Jahre später noch in den Gliedern steckt, kommen nun noch einmal zusammen: Michael und seine Mutter, Aisha und Jelly, und es hat etwas Schmerzhaftes und Anrührendes, wie diese aus dem Gleichgewicht geratenen Überlebenden langsam das Schweigen überwinden, und wieder spielt dabei die Musik eine entscheidende Rolle - Stimmen wie die von Nina Simone, in denen Erfahrungen der Ausgrenzung und des Leids geborgen scheinen, Erfahrungen, für die Chariandys Figuren keine Worte haben: "Jelly steht am Plattenspieler und nickt, geht Mutters alte Alben durch, wählt eine Platte aus und schaut nach, ob sie Kratzer hat. Er setzt die Nadel auf, und als die tiefe Stimme einer Frau die Stille durchbricht, runzelt Mutter die Stirn, als würde es ihr wehtun. Jelly fummelt an den Knöpfen, will die Musik leiser drehen, aber Mutter schüttelt den Kopf. Ihre Hände gehen hoch. 'Lauter', sagt sie."

Es sind diese kleinen Szenen, die lange nachklingen. Kunstvoll wechselt David Chariandy wie ein DJ zwischen der Erzählgegenwart Anfang der 90er und den frühen 80er-Jahren hin und her, mixt die beiden Zeitebenen ineinander. Seine Sätze sind von poetischer Beiläufigkeit und von Dezenz, vieles bleibt unausgesprochen, in Gesten oder in der Stille geborgen. Es gibt keine Sozialromantik in diesem Buch, keine versöhnlichen Töne, und doch scheint darin eine tiefe Menschlichkeit auf, etwas Tröstliches. Die erlebte Zerstörung wird nicht zu einer wertvollen Erfahrung verklärt. Die Trauer seiner Figuren bleibt. Aber nach und nach können sie diese Traurigkeit teilen, das ist ein Anfang. Nina Simone singt von einem neuen Tag, einem neuen Leben, "and I'm feeling good / I'm feeling good."

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