Dave Goulsons Sachbuch "Stumme Erde":Kein Weg zurück zum Bienenstock

Lesezeit: 4 Min.

Alles, was aufs Partikulare zielt, erweist sich als ungenügend: Blühstreifen zwischen Feldrand und Landstraße. (Foto: Renate Schmidt)

Der britische Biologe Dave Goulson schildert eindrücklich das stille Drama des großen Insektensterbens.

Von Burkhard Müller

Vor rund 60 Jahren erschien ein Buch, das unerwartet starke Folgen hatte: "Der stumme Frühling" von Rachel Carson. Carson führte darin vor Augen, wie das Insektizid DDT sich in der Nahrungskette anreicherte und alle Lebewesen, die sich direkt oder indirekt von Insekten ernährten, bis hinauf zum Menschen, vergiftete. Was ihrer Stimme Gewicht verschaffte, war ihr Bild von einer Welt, in der im Frühling keine Vögel mehr singen. Carson wurde als Fanatikerin und Kommunistin attackiert - aber letztlich war es ihr zu verdanken, dass DDT heute in den meisten Ländern verboten ist.

An dieses Buch knüpft der britische Biologe und Naturschützer Dave Goulson an, wenn er sein eigenes "Stumme Erde" nennt, "Silent Earth". Auch er schildert die Katastrophe, die sich in der Gegenwart vollzieht, in der Hoffnung, dass sie sich doch noch abwenden lasse. "Averting the Insect Apocalypse" lautet der englische Untertitel, der in guter angelsächsischer Tradition Kühle mit Intensität verbindet. Daraus wird im Deutschen dann leider "Warum wir die Insekten retten müssen". Aber die deutsche Version hat doch den Vorzug, die Schwachpunkte dieses Plädoyers zu markieren.

Man spürt, dass man sich gerade die trockenen Tabellen und Analysen nicht ersparen darf

Da ist zunächst das "Wir". Die erste Person Plural scheint heute unvermeidlich zu sein, wo immer es um ökologische Probleme geht. Sie suggeriert generelle Verbindlichkeit, indem sie ausdrücklich alle einschließt, bleibt aber zugleich so vage, dass keiner sich persönlich angesprochen fühlen muss. Und dann stehen die beiden Verben "retten" und "müssen", zumal in ihrer Verbindung, im Zeichen eines moralischen Auftrags, der der Reflexion eher abträglich ist.

Ja sicher, im Vereinigten Königreich gibt es eine halbe Million Kilometer Straßenränder, und man könnte sie alle mit Blühstreifen bepflanzen. Aber was nützt diese Pracht den Insekten, wenn auf diesen schmalen Streifen von rechts die Autoabgase und von links das geballte Gift der angrenzenden Äcker herüberwabern? Alles, was aufs Partikulare zielt, erweist sich als ungenügend. Nichts von dem, was Goulson rät, ist ja eigentlich verkehrt, vom Anbau bienenfreundlicher Pflanzen im eigenen Garten über den Einkauf beim Biobauern bis zur Weiterbildung von Grundschullehrerinnen. Aber es nimmt alles in allem den Dimensionen des Phänomens nicht das Maß.

Dave Goulson: Stumme Erde. Warum wir die Insekten retten müssen. Aus dem Englischen von Sabine Hübner. Hanser, München 2022. 368 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Dabei ist er sich genau darüber im Klaren, um was es geht. Die Krefelder Studie von 2017, die ergab, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Gesamtmenge der Insekten um mehr als drei Viertel zurückgegangen ist, und zwar selbst in den Naturschutzgebieten, kennt er und weiß, dass dies nur die Spitze des globalen Eisbergs ist. Seine in Jahrzehnten entwickelte Expertise bewährt sich dort, wo er von der Wirkung der Insektizide (besonders der Neonicotinoide), der Herbizide (besonders Glyphosat) und der künstlichen Düngung spricht. Sie stiften Schaden je für sich und noch viel mehr in ihrer sich hundertfach aufschaukelnden Wechselwirkung. Den Honigbienen mit geschwächtem Immunsystem rückt ja nicht nur die Varroamilbe auf den Leib, sondern sie werden dazu auch irre an ihrem Orientierungssinn und finden den Rückweg zum heimischen Bienenstock nicht mehr.

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In diesen Abschnitten, die es mit den Produkten der Agrochemie zu tun haben, gestaltet sich die Lektüre am eindringlichsten, also einerseits sehr informativ, andererseits recht anstrengend. Das Werk gerät in Gefahr, vom Sach- ins Fachbuch hinüberzugleiten. Und doch fühlt der Leser, dass er sich diese trockenen Tabellen und Analysen nicht ersparen darf, denn in ihnen steckt der eigentliche Aufschluss über das, was gegenwärtig geschieht.

Agrarkonzerne setzen in Hochglanzbroschüren falsche Behauptungen in die Welt

Goulson vermutet wohl nicht zu Unrecht, dass Firmen wie Monsanto ihre Erzeugnisse, Stoffe wie Imidacloprid und Thiamethoxam, deshalb mit Namen versehen, die sich kein Mensch merken kann, um die öffentliche Debatte von Anfang an zu entmutigen. Carson drang durch, weil die Dinge sich in ihrem Fall auf eine einfache Formel bringen ließen. Goldene Frühzeit der Ökologie! So etwas ginge heute nicht mehr.

Die chemisch-biologische Industrie hat seither nicht nur immer komplexere Technologien entwickelt, die universitäre Forschung hat sich auch so sehr ausgeweitet und spezialisiert, dass oft nicht einmal mehr die Wissenschaftler untereinander zu einer gemeinsamen Sprache finden - geschweige denn, dass die Öffentlichkeit einen Überblick gewänne. In diesem Umfeld betreiben und propagieren die großen Agrarkonzerne ihre eigene Forschung. In ihren Hochglanzbroschüren setzen sie die Behauptung in die Welt, ein bestimmtes Herbizid werde zu 100 Prozent von den zu schützenden Pflanzen aufgenommen, auch wenn unabhängige Untersuchungen ergeben, dass 95 Prozent davon in Boden, Luft und Wasser landen.

Goulson neigt bei seinem verzweifelten Einsatz dazu, die Strukturen der Welt und der Gesellschaft, in denen sich das zuträgt, aus den Augen zu verlieren. Er schreibt: "Alle müssen aktiv werden: die breite Öffentlichkeit, die Landwirtschaft, der Lebensmittelhandel und sonstige Branchen". Das klingt, als wäre es nur eine Sache des geballten guten Willens, das Insektensterben zu stoppen. Aber die Landwirte bringen die schädlichen Substanzen nicht darum auf ihren Äckern aus, weil sie habgierige Ignoranten wären, sondern weil sie ums nackte Überleben kämpfen.

Man kann die Zerstörung der Natur nicht beklagen, ohne den Kapitalismus zu betrachten

Und für den Lebensmittelhandel würde jede Maßnahme, die Geld kostet, wohl die ein bis zwei Prozent Gewinnmarge vernichten, von denen er lebt. Viele können ihr Verhalten unter den gegenwärtigen Bedingungen gar nicht ändern, ohne ihren Untergang zu riskieren. Dies, die Beschaffenheit des lückenlos weltumspannenden Systems, des Kapitalismus, muss ins Auge fassen, wer die Zerstörung der Natur beklagt. So nett sich ein Blühstreifen am Straßenrand macht, er wird die Sache, um die es geht, nicht von Grund auf ändern.

Die eindrücklichste Passage in Goulsons Buch ist die, wo er ein Bild der Welt in mittelnaher Zukunft entwirft. Solche postapokalyptischen Szenarien dienen ja sonst meist als Folie für die Heldentaten eines gewaltbereiten Individualismus. Goulson aber spricht von seinem heute noch jungen Sohn, wie er als alter Mann mit schmerzenden Gelenken im Garten Nachtwache schiebt, ein vorsintflutliches Gewehr im Schoß, um sein Gemüse zu schützen. Alles ist kaputt inzwischen, Menschen riskieren ihr Leben für ein paar Kartoffeln. Es raschelt im Gebüsch, er packt das Gewehr - da ist es ein Igel, der auf der Suche nach Schnecken und Insekten schnüffelnd durch die Hecke dringt. Ein Igel! So was hat er seit 50 Jahren nicht mehr gesehen. Ja, wenn der Kapitalismus sich eines Tages selbst aufgefressen hat, dann könnte es sogar, bei allem sonstigen Elend, wieder Igel geben.

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