Neues Buch von Dave Eggers:Mach mal Pause

Former Facebook employee and whistleblower Frances Haugen testifies during a hearing entitled 'Protecting Kids Online: Testimony from a Facebook Whistleblower' in Washington

Frances Haugen belastet Facebook schwer - auch deshalb ist Dave Eggers' neues Buch "Every" über die Datenkraken das Buch der Stunde.

(Foto: McClain/POOL/REUTERS)

Sehr aktuell, aber auch sehr gut? Dave Eggers' "The Circle"-Fortsetzung "Every" und die Parallelen zur Whistleblowerin Frances Haugen.

Von Andrian Kreye

Als Dave Eggers neulich am Telefon über seinen neuen Roman "Every" sprach, durfte die Welt noch nicht wissen, dass die Whistleblowerin hinter den "Facebook Files" Frances Haugen heißt, aus Iowa stammt und als Idealistin eigentlich vorhatte, den Konzern von innen zu verändern. Sonst hätte man hervorragend darüber reden können, dass seine neue Hauptfigur Delaney Wells aus Idaho stammt und eine Idealistin ist, die den fiktiven Konzern "Every" von innen verändern will.

Die Wirklichkeit habe ihn beim Schreiben immer wieder eingeholt, sagte Eggers am Telefon aber eh schon. Vieles, was er sich für seine Dystopie einer nahen digitalen Zukunft ausdachte, gab es plötzlich. Eine künstliche Intelligenz, die Depressionen erkennt zum Beispiel. Das ist eine der Apps, die sich Delaney für Every ausdenkt. Ihre Taktik ist - und da beginnen die Unterschiede zwischen Frances Haugen und Delaney Wells - , den Bogen des digitalen Wahnsinns bei der Produktentwicklung so zu überspannen, dass Belegschaft und Nutzer rebellieren. Komplettüberwachung, die Veröffentlichung und Bewertung aller menschlicher Handlungen, Regungen und Gefühle: All das treibt sie voran. Das ist affirmative Sabotage statt Reform. Immer frustrierter stellt sie dann fest, dass sie damit keine Empörung auslöst bei den Vorgesetzten, bei den Kolleginnen und Kollegen auf dem elysiumhaften Campus des Konzerns, sondern Begeisterung und Zuspruch. Der Schluss, den Eggers da zieht, ist wiederum sehr ähnlich wie der, den die Whistleblowerin Frances Haugen gerade in Interviews und Anhörungen betont. Nicht die Technologie ist das Problem, sondern die Menschen, die sie anwenden.

"Every" ist die Fortsetzung von Eggers erster digitaler Albtraumfantasie "The Circle", die 2013 erschien und dann mit Emma Watson und Tom Hanks verfilmt wurde. Die Firma The Circle war damals dem Google-Konzern nachempfunden. Die Firma Every ist nun eine Fusion aller digitaler Konzerne - Google, Facebook, Amazon und der Rest. Mae Holland, die Hauptfigur aus "The Circle", ist inzwischen die Chefin dieses Metakonzerns.

Im Buch heißen die wenigen Digitalverweigerer "Trogs", sie sind Nachkommen der Hippies

Nun kann Dave Eggers in seinem eigenen Leben mit digitaler Technologie nicht viel anfangen. Er telefonierte an diesem Tag wie immer auf seinem Flip-Phone, das nichts kann - nur telefonieren. Er schreibt seine Bücher, so erzählte er, auf einem 18 Jahre alten Powerbook, das nicht ans Internet angeschlossen ist. Und zwar meist auf einem Boot in der Mitte der Bucht von San Francisco. Auch sein Auto hat keinerlei digitale Funktionen, ein ebenfalls 18 Jahre alter Honda Element, ein Kastenwagen mit dem Design-Glamour einer Packung Toastbrot. "Meine Familie hasst dieses Auto", sagte er und lachte. "Aber das piept nicht. Das sagt mir nicht dauernd, was ich tun und lassen soll. Vor ein paar Jahren waren wir in den Sommerferien in Schweden, da mieteten wir einen Volvo, und ich war schockiert, als mir das Auto sagte, dass ich jetzt gefälligst anhalten und einen Kaffee trinken sollte. Ich sei müde. Und dann hat das Auto so lange gepiept, bis ich angehalten habe." Nein, er will nicht, dass Maschinen mit ihm kommunizieren, ihn manipulieren, etwas über ihn wissen. Das ist ein Lebensgefühl, das in der digitalisierten Welt nur noch wenige mit ihm teilen. Gerade in San Francisco.

Im Buch heißen diese wenigen Digitalverweigerer "Trogs", sie sind Nachkommen der Hippies, die sich aus den digitalen Netzwerken in ihre kleinen Holzhäuschen zurückgezogen haben und sich auf Slalomkursen durch die Stadt bewegen, um der Dauerüberwachung durch all die Kameras zu entkommen. Das genaue Gegenteil sind Delaneys Kolleginnen und Kollegen bei Every, die Eggers mit dem Blick eines Karikaturisten beschreibt. Die Menschen der digitalen Welt zeichnet er als neurotische Knechte, die ihren freien Willen und ihre Würde den Bequemlichkeiten und Sicherheiten der digitalen Welt geopfert haben und die ihre letzten Unsicherheiten hinter den strengen Regeln der Wokeness verstecken. Alles wollen sie für Every berechnen und bewerten. Das tiefste Innerste der Menschen, ihr Leben, ihre Werte, ihren Geschmack. Ein Verfahren, das, wie Eggers sagt, schon jetzt alle Ambivalenzen und Zwischentöne aus dem Leben vertreibt, die es lebenswert machen. Die Trogs wiederum sind hoffnungslos weltfremde Widerständler gegen diesen freiwilligen Totalitarismus.

Der größte Spaß des Buches ist die ständige Steigerung der technologischen Zumutungen, die schließlich für eine der komischsten Szenen im Buch sorgt. Algorithmen entlarven den über-woken Mann, der Präsident werden will, bei seinem Firmenbesuch als Lüstling. 2013 holte die Wirklichkeit "The Circle" zwischen Abgabe des Manuskripts und Veröffentlichung ein. Im Juni enthüllte Edward Snowden die Überwachungsprogramme der NSA und anderer Geheimdienste. Im Oktober erschien der Roman. Dieses Mal ist die Taktung etwas besser. Am vergangenen Sonntag trat Frances Haugen an die Öffentlichkeit. Am Freitag nun erscheint "Every". Buch der Stunde nennen Fernsehmoderatoren so was gerne. Eggers lässt einen das beim Lesen auch hin und wieder allzu deutlich spüren, dass er das auch genau so wollte. Mit dem Techlash, dem weltweiten Widerwillen gegen die negativen Effekte der neuen Technologien, sind seine moralischen Einwände gegen die Digitalisierung zu Leitartikelbinsen geworden. In den USA sind die Debatten um ideologische Verhärtungen in Woke und Anti-Woke schon längst so leergelaufen, dass seine Konstruktion einer persönlichen Anti-anti-woke-Wokeness seinen Figuren die Komplexität und Ambivalenz nimmt, die er doch gerade einklagt.

Dass "Every" trotzdem gut lesbar ist, liegt vor allem am Handwerk. Man spürt, dass Dave Eggers viel Erfahrung in Hollywood gesammelt hat. Die Plot-Twists sind sauber getaktet. Die Figuren erfüllen ihre Handlungsfunktionen. Es gibt Pointen und Komik. Ein Cliffhanger am Ende lässt Raum für einen dritten Teil. Er schreibt handwerklich so perfekt, dass einen seine Sprache (auch in der Übersetzung) über die Längen und Redundanzen trägt. Die Qualität seines Schreibens ist übrigens wissenschaftlich bewiesen. Ob es ihm gefällt oder nicht, es war ausgerechnet ein Computer, der herausfand, dass er perfekte Romane schreibt. An der Stanford University haben sie vor ein paar Jahren ein Programm entwickelt, das 5000 Romane verglich, um herauszufinden, was einen Bestseller ausmacht. 2800 Parameter verwendet die künstliche Intelligenz, darunter Thema, Handlung, Stil und Figuren, aber auch Satzlängen, Interpunktion und Wortwahl. Den höchsten Wert für den "paradigmatischen Roman der Gegenwart" errechnete der Algorithmus für "The Circle". Ein tolles Buch. Aber nur, wenn man Rechnern seinen Glauben schenken will.

Dave Eggers: "Every", Roman. Aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2021. 529 Seiten, 25 Euro.

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